Trotz der Vielzahl von regionalen Krisen und internationalen Konflikten haben mehrere Börsenindizes Rekordstände erreicht. Wie dies möglich ist und was die Entwicklung für Sparer und Anleger bedeutet.
Im Nahen Osten und in der Ukraine toben Kriege. Im Roten Meer beschiessen Huthi-Milizen Frachtschiffe. China schickt derweil Marineschiffe und Kampfflugzeuge vor Taiwan, und in den USA hat Donald Trump gute Chancen, erneut amerikanischer Präsident zu werden.
Die geopolitischen Risiken scheinen zuzunehmen. Laut der Bank Helaba dürfte sich die Zahl regionaler Krisen und internationaler Konflikte 2023 auf Höchstständen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewegt haben. Der als sicherheitspolitischer Vordenker geltende Schweizer Alt-Botschafter Theodor Winkler hält es indessen für möglich, dass sich die regionalen Konflikte zu einem dritten Weltkrieg ausweiten könnten, wie er in der «NZZ am Sonntag» schreibt.
Angesichts der vielen geopolitischen Warnzeichen zeigen sich Investoren und Finanzmarktteilnehmer aber erstaunlich unbeeindruckt. Die amerikanischen Leit-Aktienindizes S&P 500 und Dow Jones Industrial Average haben gerade Rekordstände erreicht, ebenso wie das führende deutsche Aktienbarometer DAX.
Wie passt die Feierlaune an den Finanzmärkten zu den vielen politischen Brandherden auf der Welt? Unterschätzen die Börsen etwa die Risiken – und was könnte das für die Geldanlage bedeuten? Mehrere Anlageexperten geben Auskunft.
Börsenrekorde bei gleichzeitig vielen geopolitische Krisen – ist das nicht ein Widerspruch?
Die geopolitischen Risiken gelten heute als besonders gross. Allerdings falle es schwer, auf das 20. Jahrhundert zurückzublicken und diese Zeit als «geopolitisch ruhig» zu bezeichnen, sagt Timothy Ash, Anlagestratege bei der Investmentgesellschaft RBC Blue Bay, welche die Vermögensverwaltungsabteilung der Royal Bank of Canada ausserhalb Nordamerikas vertritt.
Viele geopolitische Entwicklungen seien aus menschlicher Perspektive zwar tragisch, sagt Daniel Murray, stellvertretender Anlagechef bei EFG Asset Management. Oftmals handle es sich aber um Ereignisse in Gegenden, die aus weltwirtschaftlicher Sicht weniger wichtig und die nicht allzu stark mit den globalen Finanzmärkten verbunden seien. So sorgen sie an den Börsen oft nur für wenige Tage für Störungen – bis sich an den Finanzmärkten die Erkenntnis durchsetzt, dass die Auswirkungen solcher Krisen auf Unternehmensgewinne, Inflation oder Geldpolitik unter Kontrolle sind.
Als Ausnahme gilt hier der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, denn er hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die globalen Finanzmärkte. Der Grund hierfür seien vor allem die Verwerfungen auf den Energie- und anderen Rohstoffmärkten gewesen, sagt Murray.
Ash weist indessen darauf hin, dass trotz dem riesigen Leid in der Ukraine einige der schlimmsten Szenarien nicht eingetroffen sind. So ist Wladimir Putins Plan einer schnellen Unterwerfung der Ukraine nicht aufgegangen. Auch eine europäische Energiekrise ist ausgeblieben. Laut dem Anlagestrategen kann man die Unterstützung der Ukraine als vielleicht beste Investition des Westens in die eigene Verteidigung seit dem Zweiten Weltkrieg sehen: Schliesslich sind so grosse Teile von Russlands konventionellen militärischen Mitteln ausser Kraft gesetzt worden.
Sind die geopolitischen Entwicklungen ein Risiko für die Aktienkurse?
Die geopolitische Lage gilt trotzdem als Risiko für die Finanzmärkte. Zu Kursverlusten dürfte es zweifellos kommen, wenn sich einer der Konflikte zu einem Flächenbrand ausweiten würde.
«Wenn der Gaza-Krieg zu einem noch grösseren Konflikt zwischen den USA und Iran werden würde, könnte dies massive Folgen für die Finanzmärkte, vor allem die Rohstoffmärkte, haben», sagt Ash. Als potenzielle Konsequenzen gelten eine höhere Inflation, Unterbrechungen von Lieferketten sowie ein niedrigeres Weltwirtschaftswachstum.
Unterschätzen die Finanzmärkte geopolitische Risiken?
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Finanzmärkte geopolitische Risiken unterschätzen, hält Murray für eher niedrig. Es handle sich dabei im Allgemeinen um Extremrisiken – im Finanzjargon «tail risks» genannt. Wenn sie sich aber tatsächlich manifestieren, wären ihre Auswirkungen dafür aber umso grösser.
Als potenzielle Extremrisiken gelten beispielsweise der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durch Russland oder ein direkterer Einbezug Irans in den Krieg im Nahen Osten. Eine Gefahr sei auch, dass China noch aggressiver gegenüber Taiwan vorgehe. Im Fall Russland hätten Marktteilnehmer und Unternehmen die Risiken unterdessen klar unterschätzt, sagt Ash. «Es gab hier viel zu viel Wunschdenken.»
Welche Risiken würde eine erneute US-Präsidentschaft von Donald Trump mit sich bringen?
Momentan ist nicht ganz klar, wie die Politik eines erneut gewählten US-Präsidenten Trump aussehen würde. Trump hat unter anderem gesagt, dass er die Einführung hoher Zölle auf chinesische Importe plane. «Würde er dies umsetzen, wäre eine chinesische Vergeltung deutlich wahrscheinlicher», sagt Murray. Ein Szenario wäre, dass China im Gegenzug beispielsweise den Verkauf von seltenen Erden an die USA und ihre Verbündeten einschränken könnte. Dies wiederum wäre ein Schock für die Weltwirtschaft und könnte die Inflation nach oben treiben.
Trump hat bekanntermassen auch gesagt, er werde bei einer Wiederwahl Nato-Ländern, die nicht mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts in die Verteidigung stecken, die militärische Unterstützung der USA entziehen. Dies hätte natürlich negative Folgen für die weltweite Sicherheit, sagt Murray. Man sollte sich aber auch als Anleger in Erinnerung rufen, dass im amerikanischen politischen System Gewaltenteilung herrsche und die Macht des US-Präsidenten begrenzt sei.
Im Fall einer erneuten Trump-Präsidentschaft rechnet Ash indessen mit einem stärkeren Isolationismus der USA sowie weiteren Handelskriegen. Trump sei jetzt das grösste globale geopolitische Risiko, sagt er.
Die Anlagefondsgesellschaft DWS hat Ende Januar in einer Analyse daran erinnert, dass die Renditen zehnjähriger US-Staatsanleihen nach der Wahl Trumps 2016 in die Höhe schossen. Sie legten von 1,8 Prozent kurz vor der Präsidentschaftswahl im November 2016 auf knapp 2,65 Prozent bis Mitte Dezember zu. Dies dürfte vor allem damit zu tun gehabt haben, dass der Wahlausgang für viele unerwartet kam. Je mehr der Markt nun mit einem Wahlsieg Trumps rechne und dies in höheren Renditen oder einem stärkeren Dollar ausdrücke, desto geringer dürfte die Marktreaktion nach einem möglichen Sieg ausfallen, heisst es bei der DWS.
Autokratien auf dem Vormarsch, Demokratien auf dem Rückzug: Welche Konsequenzen hat das für die Börsen?
Aus Sicht von Murray ist die Demokratie in der Tat weltweit auf dem Rückzug, was ohne Zweifel mit der demografischen Alterung der Bevölkerung, schwachem Wirtschaftswachstum und stark belasteten Systemen sozialer Sicherung zusammenhänge. Nach dem Rückgang der Risikoprämien für verschiedene Geldanlagen in den vergangenen drei Jahrzehnten könnte nicht zuletzt deswegen in den kommenden zehn oder zwanzig Jahren ein Anstieg der Risikoprämien anstehen.
Ash weist indessen darauf hin, dass auch Autokratien ihre Probleme haben. Dabei nennt er die tiefgehende Immobilienkrise in China. Der Aufstieg Chinas zu globaler wirtschaftlicher Hegemonie sei nicht zwangsläufig. Letztlich sei der Westen immer noch der grösste und wichtigste Handelsblock der Welt.