Der Tod des 34-jährigen Spitzensportlers Adrian Lehmann lässt niemanden kalt. Viele dürften jetzt überall Herzinfarkte «sehen». Und merken, dass sie das Thema bisher unterschätzt haben. Ein Beitrag aus der Rubrik «Hauptsache, gesund».
Die Meldung schlug ein wie eine Bombe: Der 34-jährige Marathonläufer Adrian Lehmann stirbt an einem Herzinfarkt. Die Nachricht hat auch mich erschüttert. Obwohl ich den Verstorbenen nicht gekannt habe und selber keinen Marathon laufe.
Vielleicht ist es gerade diese fehlende persönliche Betroffenheit, die das Gehirn besonders stark aktiviert. Sofort stellen sich hundert Fragen. Wie ist so etwas überhaupt möglich?, ist die erste. Dieser Frage bin ich in einem Hintergrundartikel über die Entstehung von tödlichen Herzinfarkten nachgegangen.
Während der Arbeit an dem Text hat sich eine zweite Frage in meinem Kopf breitgemacht: Könnte auch ich einen Herzinfarkt erleiden? Schliesslich bin ich schon 57. Und wie sieht es bei meinem Bruder aus? Meiner Frau? Meiner Mutter?
Solche Gedanken überfallen mich immer, wenn ich höre, dass jemand eine schlimme Krankheit hat. Wo die Situation hoffnungslos ist und Heilung ein Wunder wäre. Rückblickend habe ich festgestellt, dass ich im Umgang mit solchen Schicksalsschlägen immer die gleichen drei Phasen durchlaufe. Wahrscheinlich geht es vielen so.
In der ersten Phase ignoriere ich das Thema schlicht. Nach dem Motto: Herzinfarkt – was geht das mich an? Ich führe ja ein aktives, gesundes Leben. Beim Thema Herzinfarkt müsste ich selbstkritisch sogar von aktiver Verdrängung sprechen. Denn mein Vater ist wahrscheinlich an einem plötzlichen Herztod gestorben.
Das «Wahrscheinlich» beruht auf der Tatsache, dass bei ihm keine Autopsie durchgeführt wurde. Er ist eines Tages aus dem Stehen heraus zusammengebrochen. Ohne Vorwarnung. Und ohne bekannte Vorerkrankungen und Risikofaktoren. Einfach so. Er war 74 Jahre alt.
Ich hätte also allen Grund, mir Sorgen zu machen. Oder wenigstens Gedanken. Doch erst die Konfrontation mit dem unerwarteten Tod von Adrian Lehmann löste bei mir einen Prozess aus, den ich die Sensibilisierungsphase nenne. Das ist Phase zwei in meinem Stufenmodell zum Umgang mit schlimmen Krankheiten.
Diese Phase ist gekennzeichnet durch Unsicherheit, Angst und Überreaktion. Je mehr ich mich mit der Krankheit beschäftige, desto mehr reale Gefahren erkenne ich. Und Zustände im Körper, die das Risiko für einen Herzinfarkt erhöhen könnten. Müsste ich mich nicht darum kümmern? Schliesslich weiss man, dass die potenziell gefährlichen Veränderungen an den Herzkranzgefässen, die zum Herzinfarkt führen können, schon ab zwanzig oder dreissig einsetzen.
Sollte ich nächste Woche zum Hausarzt gehen? Einmal ein EKG machen lassen? Oder besser einen Herzultraschall? Oder ein Herz-CT, mit dem man den Zustand und die Verkalkung der Herzkranzarterien sehen kann?
Wer solche Gedanken weiterspinnt, kann sich leicht verrückt machen. Denn es gibt auch noch viele genetische Störungen, die das Risiko eines Herzinfarkts und eines plötzlichen Herztodes erhöhen. Müsste ich also auch das ganze Genom sequenzieren lassen?
Spätestens bei der Frage, wer das alles bezahlen soll, komme ich meist wieder zur Besinnung. Dann beginnt Phase drei bei meinem Umgang mit schwierigen Krankheiten: die Normalisierungsphase. Sie ist geprägt von der Einsicht, dass ich sowieso nie alle gesundheitlichen Risiken erkennen und aus dem Weg räumen kann.
Mein pragmatisches Motto lautet deshalb: die wichtigsten veränderbaren Risiken reduzieren, alles andere grosszügig ignorieren. Womit ich wieder in Phase eins bin – bis zur nächsten Schockmeldung. Vielleicht ist es dann der Darmkrebs, und ich raffe mich endlich auf, die überfällige Darmspiegelung zu machen.
In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness. Bereits erschienene Texte finden sich hier.
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