100 Milliarden Euro solle die EU in die Rüstung investieren, hatte der EU-Kommissar Thierry Breton noch im Januar vorgeschlagen. Daraus wird vorerst nichts. Die EU versucht jetzt, die Länder mit finanziellen Anreizen zur Rüstungskooperation zu motivieren.
Die Uhr ticke, hat Thierry Breton, der EU-Kommissar für den Binnenmarkt, jüngst warnend gesagt. Der Franzose ist auch für Verteidigungsfragen zuständig, und diese bereiten ihm zunehmend Sorgen. In der Ukraine tobt seit zwei Jahren ein grossflächiger Krieg, und die EU-Länder haben schlicht zu wenig Waffen und Munition, um das angegriffene Land ausreichend zu unterstützen. Die Produktionskapazitäten der europäischen Waffenhersteller reichen nicht aus. Denn diese haben sie seit dem Ende des Kalten Krieges 1989 an die schrumpfende Nachfrage der Staaten angepasst.
Die Ukraine läuft deshalb Gefahr, weitere Gebiete an Russland zu verlieren. Das Problem könnte sich noch verschärfen, wenn Donald Trump im November zum amerikanischen Präsidenten gewählt wird. Er hat wiederholt betont, dass die Europäer zu wenig in die Rüstung investierten und die USA unter seiner Präsidentschaft nicht bereit seien, in die Bresche zu springen.
Viele Mitgliedstaaten sind skeptisch
Der EU-Kommissar Breton sprach deshalb noch im Januar davon, dass die EU langfristig 100 Milliarden Euro in die Verteidigung investieren solle. Doch für einen solchen Effort sind die Mitgliedsländer offenbar nicht zu haben. Das zeigte sich am Dienstag, als die Kommission eine Reihe mit Spannung erwarteter Vorschläge zur Stärkung der gemeinsamen Verteidigung machte.
Bei der Rüstung bäckt die EU weiterhin kleine Brötchen – grosse Summen fliessen nicht, die Kooperation der Länder wird sich weiterhin in einem engen Rahmen halten. Die Kommission schlägt erstens das European Defence Industry Programme (EDIP) vor. Dafür spricht sie für die Jahre 2025 bis 2027 den Betrag von 1,5 Milliarden Euro.
Damit sollen Firmen unterstützt werden, die ihre Kapazitäten ausbauen. Die Unterstützung der EU erfolgt in der Form von Zuschüssen. Viele Unternehmen schrecken vor einem Ausbau der Produktion zurück, weil sie nicht wissen, wie ernst es den EU-Ländern mit der angekündigten Aufrüstung ist. Im ungünstigen Fall investieren sie in Fabriken, die dann nur gering ausgelastet sind.
Hilfe erhalten auch EU-Staaten, die Rüstungsgüter gemeinsam beschaffen. Kooperation ist derzeit umso wichtiger, weil Waffen und Munition infolge der lebhaften Nachfrage sehr teuer geworden sind. Kaufen die EU-Länder unkoordiniert und einzeln ein, treiben sie die Preisspirale weiter an.
Mit einem zweiten Programm, der European Defence Industrial Strategy (EDIS), will die Kommission die Länder dazu anhalten, in der Rüstung stärker zu kooperieren. Wenigstens 40 Prozent der Beschaffungen sollen Mitgliedsländer gemeinsam tätigen. Bis 2030 soll der Handel mit Rüstungsgütern innerhalb der EU 35 Prozent der gesamten EU-Verteidigungsausgaben ausmachen. Heute liegt dieser Wert bei 15 Prozent und ist sinkend. Die angestrebte Schwelle ist allerdings nicht verbindlich. Es wird also keine Sanktionen geben, falls sie nicht erreicht wird.
Drittens will die EU in der Rüstung enger mit der Ukraine kooperieren. In der ukrainischen Hauptstadt soll dafür ein EU Defence Innovation Office entstehen. Die Ukraine sei verteidigungspolitisch ein Quasimitglied der EU, sagte ein Mitarbeiter der Kommission. Und so werde sie auch behandelt.
Die EU will vom Drohnenwissen der Ukraine profitieren
Uneigennützig ist die EU dabei nicht. Selbst Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban will auf keinen Fall, dass Russland eines Tages sein Nachbarland wird, weil die Ukraine den Krieg verliert.
Deren Armee ist für die EU mittlerweile aber auch ein wichtiger Know-how-Träger. Der Krieg ist der grösste Territorialkonflikt seit Jahrzehnten, und die EU will von den ukrainischen Erfahrungen profitieren. Dies gilt besonders für den Einsatz von Drohnen, die in der Ukraine zu Tausenden herumfliegen. Der EU schwebt vor, bei der Produktion dieser Geräte mit der Ukraine zu kooperieren.
Umfangreiche Investitionen sind mit dem geplanten Betrag von 1,5 Milliarden Euro allerdings nicht möglich. Richtig grosse Beträge könnte die EU nur stemmen, wenn sie dafür Anleihen emittierte. Doch Mitgliedsländer wie Deutschland und die Niederlande wollen das nicht.
Die EU hofft nun, dass die von ihr gewährten Zuschüsse als Anschubfinanzierung dienen und private Investoren bei Rüstungsprojekten mitziehen werden. Zudem hat sich die kapitalstarke Europäische Investitionsbank, die den EU-Mitgliedsländern gehört, bereit erklärt, vermehrt Projekte im Verteidigungsbereich zu finanzieren.
Darüber hinaus hat die EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen jüngst den Eindruck erweckt, dass sie die eingefrorenen Vermögen Russlands gerne für die Verteidigung der Ukraine verwenden würde. Es sei an der Zeit, darüber nachzudenken, sagte sie im Europäischen Parlament. Doch entschieden ist noch nichts. Manche Mitgliedsländer schrecken davor zurück, die Erträge aus konfisziertem russischen Staatsvermögen zu verwenden. Sie befürchten einen Dammbruch, der den Ruf Europas als verlässlicher Finanzplatz schädigen würde.
Eine europäische Armee wird es nicht geben
Klar ist nach wie vor: Die EU wird nicht über eigene Streitkräfte verfügen, die in der Lage sind, einen langen Territorialkrieg zu führen. Die EU wolle es den Ländern dank diesen Instrumenten vielmehr ermöglichen, bei der Rüstung stärker zu kooperieren, meinte ein Mitarbeiter der Kommission. Die eigentlichen Investitionen müssten von den Mitgliedsländern kommen.
Für diese bleibe die Verteidigung eine Domäne der nationalen Souveränität, sagt Sven Biscop, Politikprofessor am Brüsseler Egmont Institute, im Gespräch. «Über Leben und Sterben entscheiden die nationalen Regierungen.»