Die Schwäche der chinesischen Festlandindizes kaschiert die zunehmende Stärke vieler Börsen im Raum Asien-Pazifik. Dazu zählt nicht nur der Evergreen Sensex, sondern auch Taiwan, Singapur oder Indonesien.
Wenn das Dictum von John von Neumann zutrifft, dass Strategie die Vermutung sei, was andere Spieler entscheiden werden, stellt sich die Frage, wie diese Vermutung zustande kommt.
Genau diese Frage beantwortet die Psychologie mit ihrer «Theory of Mind». Im von Professor Hans Förstl herausgegebenen Buch «Theory of Mind. Neurobiologie und Psychologie sozialen Verhaltens» wird die Theorie als Versuch – wieder ein Versuch, doch anders geht es in komplexen Systemen nicht – definiert, «sich in andere hineinzuversetzen, um deren Gedanken, Wahrnehmungen und Absichten» zu verstehen. Das Buch ist übrigens eine Bereicherung für alle, die sich mit Behavioral Finance befassen.
In kommunikationsintensiven Märkten, an denen liquide Wertrechte von unzähligen Personen in grossen Mengen gehandelt werden, vermitteln die Preise Informationen über das Verständnis der Gegenwart und die Extrapolation in die Zukunft durch die handelnden Personen. Überdies beeinflussen sich die Akteure durch ihre Handlungen über die Preise gegenseitig, einschliesslich ihrer Interpretationen ökonomischer Daten.
Marktgenerierte Daten zeigen, wie Anleger ticken
Man kann vielleicht einige, aber nicht alle befragen, warum sie das taten, was sie taten. Aber alle haben einen Stellvertreter, der für sie spricht: Die durch ihre Handlungen generierte Daten.
Diese marktgenerierten Daten zeigen über die Veränderung der relativen Preise, der gehandelten Volumen und der Marktbreite, in welchen Industrien, Sektoren und Regionen sich positive Cluster bilden, die den Schluss zulassen, dass Populationen trotz ihrer völlig unterschiedlichen Entscheidungsansätze übereinstimmende Erwartungen teilen. Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, dass die Aktienmärkte der konjunkturellen Entwicklung meistens um etwa sechs bis neun Monate vorauseilen.
Eine meiner auf dieser Grundlage erstellten Vermutung ist die, dass die Zahl der Anleger zunimmt, die nach Asien aufbrechen, sofern die Märkte weder Japan noch China heissen.
Einen Einblick in dieses Geschehen vermittelt der MSCI Far East ex Japan:
Der Abwärtstrend, der zwanzig Monate dauerte und von der im Februar 2021 erreichten Spitze einen Verlust von bis zu 48% einbrachte, von einer Bodenbildung abgelöst worden, die fünfzehn Monate in Anspruch nahm. Den Rückschlag der letzten drei Monate beurteile ich als die erste Konsolidierung eines bereits begonnenen Aufwärtstrends.
Die asiatischen Märkte bilden keine geschlossene Einheit. Sie können in vier Gruppen eingeteilt werden:
- Die Evergreens
- Die Newcomer
- Die Schläfer
- Die Hoffnungslosen
Die Evergreens
Dieser Titel ist vielleicht etwas vermessen, denn wir können niemals sicher sein, dass ein bereits bestehender Aufwärtstrend sich noch lange fortsetzt. Allerdings ändern solche Trends nicht ohne Vorankündigung, die im Wesentlichen aus signifikanten Veränderungen von Momentum und Volatilität bestehen.
Als Evergreen bezeichne ich jene Indizes, die sich gemessen am 20- und 40-Monate-Bollinger-Band in positiven Trends befinden und gemessen am Durchschnitt über 50 Monate einen positiven Verlauf zum MSCI Welt nehmen, wie der indische BSE Sensex:
In diese Kategorie fällt seit 2020 auch der taiwanesische TSEC:
Dessen Verlauf zum MSCI Welt ist allerdings deutlich erratischer als der des Sensex. Das ist der Hauptgrund, warum der Sensex mein Favorit in der Region Asien-Pazifik ist.
Die Newcomer
Indonesien fällt immer häufiger mit positiven Nennungen in den Medien auf.
Der JKSE als Hauptindex der indonesischen Börse befand sich von April 2022 bis zu diesem Monat in einer Seitwärtsbewegung:
Das führte zur relativen Schwäche zum MSCI Welt, nachdem dieser nach seinem Rückschlag Ende September 2022 zu einem neuen Aufwärtstrend angesetzt hatte.
Meiner Meinung nach liegen die Chancen gut, dass der JKSE Index aus dieser Seitwärtsbewegung ausbricht. Das dürfte auch mit einer Erholung des relativen Preises zum MSCI Welt einhergehen. Die kurzfristigen Daten sprechen jedenfalls dafür.
Als Newcomer in die Familie der primären Aufwärtstrends ist auch der australische All Ordinaries angekommen. Dieser Index verlief zwischen August 2021 und Dezember 2023 in einer gross angelegten Konsolidierung des primären Aufwärtstrends seitwärts. Mittlerweile hat er den alten Aufwärtstrend wieder aufgenommen. Wegen bisheriger relativer Schwäche qualifiziert er sich nicht für die Kategorie der Evergreens:
Die relative Schwäche zum MSCI Welt scheint ihren relativen Trend zu brechen. Ich gehe davon aus, dass es mindestens zu einem Gleichlauf mit dem MSCI Welt kommt.
Singapur ist ein weiterer Markt, den ich in die Kategorie der Newcomer einstufe. Hier gibt es vier Indizes, die sich mit sehr unterschiedlichen Kursbildern präsentieren, die aber alle seit September 2022 relativ schwach bis sehr schwach zum MSCI Welt waren. Alle streben nach oben, und zwar auch relativ zum MSCI Welt.
Als weiteren Newcomer stufe ich den Philippines All Shares ein:
Auch dieser Index weist nach einer etwas mehr als fünfjährigen relativen Schwäche seit Juni ausreichendes Kursmomentum auf, um relativ zum MSCI Welt zuzulegen:
Wie üblich bei Bodenbildungen geht auch hier das Kursmomentum dem relativen Momentum deutlich voraus.
Die Schläfer
Zu den Schläfern zähle ich jene Indizes, die sich nach einem langen Aufwärtstrend seitwärts bewegen, wie zum Beispiel der neuseeländische NZSX 50:
Als weiteren Index stufe ich den Ho Chi Minh Index als Schläfer ein, der sich seit nunmehr zwei Jahren seitwärts bewegt.
Als Folge dieser Seitwärtsbewegung verlieren diese Indizes stark gegenüber dem MSCI Welt und taugen daher als langfristige Anlage nicht.
Ferner zähle ich auch Bodenbildungen dazu, die nicht abgeschlossen sind, wie in den malaysischen Indizes oder im Hong Kong Hang Seng Index:
In den malaysischen Indizes und im Hang Seng Index scheint sich eine positive Entwicklung anzubahnen. Sie dürfte aber noch Zeit in Anspruch nehmen.
Die Hoffnungslosen
Zunächst noch kurz ein Wort zu den Hoffnungslosen, zumindest aus der für mich stets entscheidenden relativen Sicht.
In diese Kategorie fallen der koreanische Kospi und der SET in Bangkok. Und ganz besonders die festlandchinesischen Indizes.
Mit welchem Narrativ harmoniert diese Entwicklung?
Es ist aus meiner Sicht eindeutig das Capex-Narrativ, das Russell Napier im Interview mit Mark Dittli bereits am 14. Oktober 2022 ausgerufen hat, als eine erdrückende Mehrheit der Kommentatoren erdrückend negativ gestimmt war.
«Wir stehen vor einem Boom in den Kapitalinvestitionen» war der Titel. Immer wieder wurde dieses Programm durch die marktgenerierten Daten bestätigt. Es kommt nicht von ungefähr, dass der MSCI Industrials in diesem Monat einen Allzeithoch erreicht hat.
Hinter dieser Indexentwicklung und hinter diesem Narrativ stehen eine Anpassung an die geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit und die Lehren aus der Covid-Krise, dass die Lieferketten zumindest für strategisch wichtige Güter diversifiziert sein müssen. Von dieser Entwicklung profitiert die Region zum Teil mittelbar, zum Teil unmittelbar.
In einem Interview mit Mark Dittli im September 2023 stellte Marko Papic fest: «Don’t forget that people in the investment world want to believe in narratives. Narratives are very strong». Sie sind es, in der Tat.
Alfons Cortés