Wie erleben Tibeter und Uiguren in der Schweiz den Druck chinesischer Behörden im Alltag? Betroffene berichten.
Wenn Golog Jigme durch die Strassen Zürichs geht, fällt er auf: Er trägt die tibetische Mönchsrobe. Zumindest hat er das bis 2022. Seither geht er öfters in Jeans und Jacke vor die Türe. Er ist vorsichtiger geworden.
Im Jahr 2022 haben sich gleich zwei Vorfälle ereignet, die Golog Jigme für einen Moment das Gefühl gaben, nicht in Zürich, sondern wieder in China zu sein, in dem Land, wo er mehrfach verhaftet, verhört wurde und im Gefängnis sass, weil er sich für die Rechte der Tibeter eingesetzt hatte.
Verdächtige Drohnen mitten in Zürich
Golog Jigme berichtet am Telefon, dass er im August 2022 bei seinem abendlichen Spaziergang im Friedhof Sihlfeld eine Drohne entdeckt hatte. Er dachte zuerst an ein Spielzeug Jugendlicher. Doch am nächsten Tag war sie wieder da. Und tags darauf. Als er vor seiner Wohnungstüre stand, hörte er wieder ihr Brummen, hoch oben am Himmel flog sie. Da zückte er sein Telefon und filmte die Drohne. Sie flog langsam weg.
Im selben Jahr war er mit Freunden auf dem Platzspitz in Zürich unterwegs, als ihm ein Mann auffiel, der wie ein Chinese aussah, der ihnen in gleicher Distanz folgte, sich schliesslich hinter einen Baum stellte und mit einer mittelgrossen Kamera Fotos von ihm schoss. Als Golog Jigme auf ihn zuging, sei er weggerannt. «Nervenaufreibend» sei das gewesen.
Solche Erfahrungen gehören offenbar zum Alltag vieler Tibeter und Uiguren in der Schweiz. Das zeigt ein Forschungsbericht, der die Universität Basel im Auftrag des Bundes erstellt hat. Am Mittwoch hat der Bund den Untersuchungsbericht nach medialem Druck veröffentlicht. Die Schlussfolgerung des Berichts ist happig: Die Forscher gehen davon aus, dass Tibeter und Uiguren in der Schweiz systematisch überwacht und bedroht werden.
Die chinesische Botschaft in Bern kritisiert den Bericht. Er basiere auf «völlig unbegründeten und nicht verifizierten Informationen» und verunglimpfe die chinesische Regierung, schreibt die Pressestelle der Botschaft per E-Mail. China bedrohe keine chinesischen Staatsangehörigen im Ausland, noch überwache man sie.
Angst vor Gefährdung Verwandter in China
Die meisten Tibeter und Uiguren kommen in die Schweiz als politische Flüchtlinge. Andili Memetkerim ist seit 25 Jahren in der Schweiz, er war viele Jahre lang der Präsident des uigurischen Vereins und lebt mit seiner Familie im Kanton Aargau. Über die Jahre habe er sich an all die kleinen, seltsamen Vorfälle gewöhnt, die ihm das Gefühl gaben, nie ganz in Sicherheit zu sein. Zur Polizei ging er deswegen nie.
So war sein persönliches E-Mail-Konto, das er für die Vereinsarbeit verwendet hatte, auf einmal gesperrt. Auf seinem Facebook-Konto gab es anonyme Anmeldeversuche mit IP-Adressen aus Schanghai oder Shenzhen. Bei Kundgebungen in Genf oder Zürich, die er mitorganisiert hatte, sei er von chinesisch aussehenden Personen routiniert fotografiert worden. Und da waren diese seltsamen Anrufe, alle paar Jahre, aus seiner Heimat – obwohl er seit vielen Jahren weder zu Familie noch zu Freunden Kontakt hält, zu ihrem Schutz. Er befürchtet, dass selbst harmlose Kontakte ins Ausland sie gefährden oder gar ins Gefängnis bringen könnten.
Im letzten Jahr etwa rief ihn ein Mann an, der sagte, er sei im Inland – also in China. Auf Uigurisch erkundigte er sich, was Memetkerim gerade so tue und vorhabe und ob er ihm irgendwie dabei helfen könne, ob er etwas brauche, ob er jemanden im Inland kontaktieren solle. «Ich bin ruhig geblieben, aber das war eine versteckte Drohung», sagt Memetkerim.
Uiguren gibt es in der Schweiz gemäss Schätzungen etwa zweihundert, in den letzten Jahren schafften es immer weniger, aus China zu fliehen. Die 33-jährige Gulipai Aimaiti gehört dazu, sie ist im Oktober mit ihrer kleinen Tochter in der Schweiz angekommen, seither lebt sie in einem Flüchtlingsheim in einem kleinen Bauerndorf in der Ostschweiz. Die Vorwürfe, die sie gegen den chinesischen Staat erhebt, wiegen schwer. Sie sind nicht unabhängig überprüfbar, aber decken sich mit vielen anderen Berichten von Betroffenen.
Aimaiti sagt, die Polizei habe sie ab 2017 dazu zwingen wollen, von Schanghai, wo sie arbeitete und lebte, nach Xinjiang zurückzukehren. Als einzige Möglichkeit, in Schanghai zu bleiben, schlug der Polizeibeamte die Ehe mit einem Ortsansässigen vor. Aimaiti beugte sich schliesslich dem Druck. Es folgten Jahre einer missbräuchlichen, lieblosen Ehe, bis schliesslich die Trennung folgte. Die Angst vor dem Ex-Mann und die zunehmende Überwachung durch die Polizei trieben Aimaiti zur Flucht über Dubai und die Türkei in die Schweiz.
Der für sie zuständige Polizeibeamte habe sie noch bis vor kurzem drangsaliert, immer wieder nachgefragt, wen sie getroffen habe, was sie gesehen habe, was sie als Nächstes vorhabe. Aus Angst vor Konsequenzen für sie und ihre Familie habe sie immer wieder abgenommen. Erst nach Wochen in der Schweiz fühlte sie sich sicher genug, die Nummer zu wechseln.
Einreise nach China verweigert
Die tibetische Gemeinschaft in der Schweiz ist viel grösser als die uigurische, da die Schweiz seit den sechziger Jahren Flüchtlinge aufnimmt. Mittlerweile sind es über 7000, so viele wie nirgends sonst in Europa. Viele von ihnen haben den Schweizer Pass, sind hier aufgewachsen. Doch in China bringt ihr Schweizer Pass offenbar nicht viel. Das zeigt der Bericht einer Person, die anonym bleiben möchte zum Schutz von Verwandten in China. Obwohl Schweizer seit letztem Frühling visafrei nach China einreisen dürfen, wurde eine Schweizer Familie tibetischen Ursprungs am Flughafen in der chinesischen Stadt Chengdu 24 Stunden festgehalten, verhört – und danach wieder ausgewiesen.
Chinas Botschaft in Bern fordert indes die Schweizer auf, Tibet und die Uiguren-Region Xinjiang zu besuchen, um sich selbst ein Bild des Fortschritts dort zu machen. Die Schweiz soll ihre «Besserwisser-Mentalität» bezüglich der Menschenrechtslage in China ablegen, schreibt die Botschaft.