Milo Rau hat Sophokles’ Tragödie mit einem blutigen Geschehen aus der neueren brasilianischen Geschichte kombiniert. Die Koproduktion mit der Landlosen-Bewegung wirkt schwerfällig. Sie sorgt aber für unterschiedliche Höhepunkte.
Zwei Brüder liegen blutüberströmt vor den Mauern Thebens. Im Kampf um die Macht haben sie sich gegenseitig getötet. Während Eteokles die Stadt verteidigt hat, ist Polyneikes als Eroberer mit einem feindlichen Heer aus dem Exil zurückgekehrt. Der neue Herrscher, ihr Onkel Kreon, verbietet es nun bei Androhung der Todesstrafe, den verräterischen Neffen zu bestatten.
Wird sich das Volk von Theben an das Verbot halten? Das Volk ja – aber nicht Antigone, die Schwester des Toten! Sie ist bereit, ihr Leben hinzugeben, um die Gesetze des Totenreichs einzuhalten und die Würde des Bruders zu schützen, der sonst zerfleischt würde von Vögeln und Hunden. Für diesen Mut wird Antigone bewundert, seit Sophokles der Heldin eine Tragödie gewidmet hat.
Der Kampf der Landlosen
Mythen haben es in sich, dass sie exemplarische, allgemein menschliche Konflikte aufzeigen. Kein Wunder also, wird auch der «Antigone»-Mythos auf unterschiedliche Situationen und Schauplätze übertragen. Letztes Jahr zeigte das Schauspielhaus schon eine «Antigone in Butscha». Und am Samstag feierte hier «Antigone im Amazonas» Zürcher Premiere. Es handelt sich um eine Produktion von Milo Rau für das «Stadstheater Gent», wo die Inszenierung letztes Jahr Premiere feierte.
Für «Antigone im Amazonas» hat Rau mit Aktivisten des Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (MST) zusammengearbeitet. Die Bewegung der Landlosen in Brasilien kämpft seit Mitte der 1980er Jahre für ihre Rechte und gegen die Zerstörung des Amazonasgebiets. Am 17. April 1996 haben gut hundert Landlose eine Durchgangsstrasse in der Provinz Pará blockiert, wo sich der Schwerverkehr aus Landwirtschaft und Bergbau durch die Natur wälzt. Die Demonstration wurde gewaltsam aufgelöst. Die Polizei schoss kaltblütig auf die Landlosen, dabei wurden 21 Frauen, Männer und Kinder getötet, zahllose wurden verletzt.
Die Geschichte dieses Massakers stellt Milo Rau dem «Antigone»-Mythos gegenüber. Die Tragödie ist einerseits selber in den Mythenschatz des MST eingegangen – jährlich wird ihrer durch eine neue Demonstration gedacht. Die Analogie ist andrerseits am Motiv des Widerstands festgemacht. Wie Antigone scheinen auch die Landlosen bereit zu sein, sich über die staatliche Gewalt hinwegzusetzen, um für Moral und Gerechtigkeit einzustehen. Und wie nach Thebens Bürgerkrieg lagen auch nach dieser Schiesserei junge Männer blutüberströmt in Staub und Schmutz der Strasse.
Milo Rau und sein europäisch-brasilianisches Ensemble, dem auch zwei Überlebende angehören, haben das Massaker am authentischen Schauplatz am 17. April 2023 nachgespielt und das Reenactment per Video festgehalten fürs Theater. Nachdem die beiden Brasilianer Frederico Araujo und Pablo Casella sowie Sara De Bosschere und Arne De Tremerie aus Gent das Stück und das Projekt auf der mit trockener Erde bedeckten Pfauenbühne vorgestellt haben, senkt sich ein Triptychon dreier Videoscreens herab. Hier werden nun nicht nur einzelne brasilianische Protagonisten und der brasilianische Chor vorgestellt. Gezeigt wird in drastischer Form vor allem das blutige Geschehen von Pará.
Die Polizisten mögen mit Spielzeugwaffen hantieren; an der Monstrosität der Tat – einige Demonstranten wurden durch Kopfschüsse hingerichtet – besteht kein Zweifel. Insofern sind die Emphase und das Pathos zu verstehen, mit denen die beiden brasilianischen Schauspieler das Geschehen nachspielen, kommentieren und, was Casella betrifft, auch durch melancholische Gitarrenklänge untermalen.
Allerdings setzte die verbrecherische Eindeutigkeit des brasilianischen Machtapparates eine gewisse Unstimmigkeit zwischen den «Antigone»-Stoff und das Massaker-Reenactment. Die Widerstandskämpfer mögen an die Heldin erinnern, aber es fehlt auf der anderen Seite eine Entsprechung für Kreon. Der Tyrann ist gewiss kein Sympathieträger, aber Sophokles hat ihn als durchaus ambivalente, zentrale Figur gestaltet, die zwischen politischer Logik und familiärem Mitgefühl aufgerieben wird.
Abwechselnd zwischen Videosequenzen und theatralen Szenen auf der Bühne, wird «Antigone» nun episodisch nachgespielt und gibt so den blutroten Faden vor für Milo Raus konzeptionell vertrackte, heterogene Produktion. Dokumentarische Passagen über das MST, die theatralische Reportage über die Produktion, Theaterspiel und Video-Reenactment fügen sich so zu einem ziemlich zähen Flow.
Für Probleme sorgen ausgerechnet die klassischen «Antigone»-Szenen selbst. In der losen Folge von Episoden fehlt es an einem Spannungsbogen und mithin auch an der Möglichkeit dramatischer Entladungen. Deshalb beschränkt sich das Schauspiel oft auf Posen und Gesten. Wenn etwa Kreon seinem Sohn Haimon beichtet, dessen Braut Antigone zum Tode verurteilt zu haben, könnte es sich von der emotionalen Intensität her auch um eine Diskussion über Sackgeld handeln.
Der Film wird Realität
Die künstlerischen Höhepunkte hingegen verdankt man dem multimedialen Doppelspiel (es gemahnt thematisch und methodisch übrigens an die Produktion «Depois do silêncio», welche die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy vor einem Jahr im Schiffbau zeigte). Die Kraft der Videosequenzen, die bisweilen mitten in den Dschungel führen, wird auf der Theaterbühne mal kontrapunktiert durch nüchterne Erklärung, mal konkretisiert durch Imitation.
Wenn Szenen des Kampfes oder des Trostes auf der Bühne live und synchron nachgespielt werden, quillt das Filmgeschehen förmlich in die Aktualität. Und wenn Aufnahmen von Indigenen im Urwald an Ferienfotos erinnern und beim belgischen Schauspieler eine touristische Scham wecken, kann man das sehr gut nachvollziehen. Die Europäer führten sich immer so scheu und schuldig auf in der Fremde, meint Arne De Tremerie. Vielleicht liege es daran, dass sie schon so viel falsch gemacht hätten in den letzten fünfhundert Jahren.