Die Antike, das sind nach herkömmlichem Verständnis Griechenland und Rom. Das greift zu kurz. Der Westen, der alte Orient, Asien, der arabische Raum bildeten schon damals ein Kontinuum.
Ein Reich ohne räumliche und zeitliche Grenzen, ein «imperium sine fine», verspricht Jupiter im ersten Buch von Vergils «Aeneis» den Römern. Roms Macht unter Kaiser Augustus und seinen Nachfolgern, sein Wandel zur Hauptstadt des Christentums und auch die Bedeutung der römischen Kultur im europäischen Klassizismus des 18. und 19. Jahrhunderts wurden oft als Erfüllung dieser göttlichen Verheissung gedeutet.
Heute muss sich ein solches Geschichtsbild den Vorwurf des Eurozentrismus gefallen lassen. Lässt sich römische Geschichte auf die Geschichte Roms reduzieren? Bestand die Antike nur aus den Reichen rund ums Mittelmeer? Natürlich nicht. Raimund Schulz’ Buch «Welten im Aufbruch» ist ein starkes Plädoyer dafür, die Geschichte der Antike nicht auf die Geschichte Griechenlands und Roms zu verengen, sondern als Globalgeschichte zu erzählen.
Schulz setzt der vermeintlichen Einheit der «römischen Welt» eine Pluralität entgegen. Er spannt den Bogen «von der Ostsee bis ins Chinesische Meer, von der Taiga bis in die arabischen Wüsten» – und dies ohne griechisch-römische Zentrierung: Es gehe ihm um eine Welt, «in der eine Schlacht chinesischer Truppen gegen die Residenz der Nomadenkrieger mindestens die gleiche Bedeutung hatte wie der Eroberungszug Cäsars in Gallien oder die Niederlage des Crassus im Wüstensand von Carrhae».
Der Gigant aus dem Nichts
In fünf Hauptkapiteln geht Schulz weder nach geografischen noch nach chronologischen Kriterien vor, sondern thematisch. Zunächst steht «Das nomadische Abenteuer» im Vordergrund. Der Autor macht hier deutlich, dass Mobilität und Sesshaftigkeit keinesfalls zwingend getrennte Lebenskonzepte waren, die aufeinander folgten, sondern «zwei Pole bildeten, zwischen denen verschiedene Gruppen innerhalb einer Gesellschaft je nach den Umständen changierten».
Sesshaftigkeit implizierte zugleich den Aufstieg der Städte. Seinem Prinzip treu, schreibt Schulz hier parallel über die Griechen, das nach wie vor rätselhafte Aufkommen der Etrusker in Italien und die urbanen Anfänge in China. Dabei unterstreicht er eine Gemeinsamkeit: dass nämlich in den unterschiedlichen Kulturen Tempel und Palast aufeinander bezogen waren und die transzendentale Dimension zur Legitimation von Macht diente – eine Konstellation, die in Rom nach der konstantinischen Wende für eineinhalb Jahrtausende zum Erfolgsmodell werden sollte.
Schulz analysiert auch, wie Imperien entstehen. Er zeigt das am Beispiel des persischen Reichs, das als Supermacht im östlichen Mittelmeerraum lange eine dominierende Roll spielte. Und er schildert, wie im Schatten der Perser Athen, die Skythen und Makedonen gross wurden. Parallel dazu stellt er das Reich der Qin und Han in China, die indischen Grossreiche von Magadha bis zu den Mauryas. Und erzählt schliesslich die Geschichte des «Giganten aus dem Nichts»: Rom.
Eine Globalgeschichte der Antike kann nicht nur als politische Geschichte erzählt werden. Erst Seitenblicke auf die Wirtschafts- und Sozialgeschichte machen das Bild vollständig, das sich aus der Ausweitung des Blicks ergeben soll. Schulz zeigt, wie Wirtschaft und Handel in der «globalisierten Welt» der Antike funktionierten. Auch der Vielfalt konkurrierender religiöser und philosophischer Weltdeutungen widmet er sich, um die Atmosphäre zu charakterisieren, in der sich die Entwicklungen und die Konflikte zwischen den Protagonisten abspielten.
Ausbruch aus dem System
Gerade in den Bemerkungen zu Religion und Philosophie wird der analytische Grundzug des Buches klar: Schulz versucht, aus Vergleich und Relativierung Erkenntnis zu gewinnen. Das ist nicht als Vorwurf gemeint, im Gegenteil: Der Autor vergleicht Taoismus und Buddhismus mit indischen, ägyptischen und hebräischen «Grundformen religiöser Welterfahrungen». Dabei gelingt es ihm, Fragen über den Anfang des Lebens, nach dem Umgang mit «heiliger Wirklichkeit» und «die drängende Frage, was mit dem Menschen nach seinem Tod geschieht», aus ihrer jeweiligen kulturellen Verankerung zu lösen und ihre globale Bedeutung zu zeigen.
In den Schlussbetrachtungen seines Buchs schreibt Schulz über die Dynamik der antiken Welt: «Immer wieder brachen Gruppen unter charismatischen Anführern aus der Clanhierarchie aus, weil sie in ihr keinen Erfolg hatten.» Mit Blick auf den Titel des Buches könnte man sagen: Aufbrüche entstehen aus Ausbrüchen. Aus den alten Systemen entstehen immer wieder neue Ordnungen, zerstören diese aber nie ganz, sondern bauen auf ihnen auf und erweitern sie. An Rom und seinen Erben zeigt sich das in aller Deutlichkeit. Aber an vielen anderen Beispielen auch.
Im Jahr 1919, während einer der grössten weltweiten Krisen, schrieb Paul Valéry in seinem Essay «Die Krise des europäischen Geistes»: «Unbedingt europäisch ist alles, was von den drei Quellen – Athen, Rom und Jerusalem – herrührt.» Es ist ein Verdienst dieses Buches, in der Krise der Globalisierung daran zu erinnern, dass Ausbruch und Aufbruch die wesentlichen Stärken der antiken Staaten und Gesellschaften waren. Und dass die Quelle ihrer Dynamik immer im Austausch mit anderen Kulturen lag.
Raimund Schulz: Welten im Aufbruch. Eine Globalgeschichte der Antike. Klett-Cotta-Verlag, Stuttgart 2025. 496 S., Fr. 49.90.