Seit langem wird darüber spekuliert, ob Antiatome von der Gravitation abgestossen statt angezogen werden. Ein Fallexperiment am Cern liefert nach vielen Jahren endlich Klarheit.
«What goes up must come down.» Dieser Ausspruch wird meist so verstanden, dass es im Leben nicht nur aufwärtsgeht. Auf jeden Aufstieg folgt irgendwann unweigerlich der Absturz. Die Redewendung lässt sich allerdings auch als treffende Umschreibung der Gravitation verstehen. Wirft man im Schwerefeld der Erde einen Gegenstand nach oben, kommt er unweigerlich wieder herunter. Oder vielleicht doch nicht?
Seit langem diskutieren Teilchenphysiker darüber, ob die Gravitation auch für Antimaterie gilt – also für Atome, die ein Spiegelbild der uns bekannten Atome sind. Manche Forscher mutmassen, dass Antiatome von der Erde nicht angezogen, sondern abgestossen werden. Dies wäre zwar ein Verstoss gegen die bekannte Physik. Doch es könnte erklären helfen, warum es im Universum eine Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie gibt. Ein Experiment am Cern in Genf schafft nun Klarheit. Auch Antiatome kennen nur einen Weg: den nach unten.
Mit Galileo Galilei fing alles an
Fallexperimente haben eine lange Tradition. Der Legende nach liess der Naturforscher Galileo Galilei bereits im 16. Jahrhundert verschiedene Gegenstände vom schiefen Turm in Pisa fallen. Dabei stellte er fest, dass alle Körper gleich schnell fallen, und zwar unabhängig von ihrer Beschaffenheit. Diese Erkenntnis wird heute als schwaches Äquivalenzprinzip bezeichnet. Albert Einstein machte es zum Grundpfeiler seiner allgemeinen Relativitätstheorie. Diese Theorie aus dem Jahr 1915 liefert bis heute die beste Beschreibung der Gravitation.
Als Einstein die allgemeine Relativitätstheorie aufstellte, wusste man allerdings noch nichts von der Antimaterie. Erst 1928 postulierte der britische Physiker Paul Dirac, dass es zu jedem Teilchen ein Antiteilchen mit entgegengesetzter elektrischer Ladung geben müsse. Seine Vorhersage wurde 1932 durch die Entdeckung des Positrons bestätigt, des positiven Gegenstücks zum negativ geladenen Elektron.
Seither taucht immer wieder die Frage auf, ob Antimaterie und Materie im Schwerefeld der Erde ein gegensätzliches Verhalten zeigen. Sehr plausibel ist das zwar nicht. Trotzdem hat das Physiker nicht davon abhalten, die kosmologischen Konsequenzen einer Antigravitation zu untersuchen. So könnte die Abstossung zwischen Materie und Antimaterie erklären, warum man in unserem Teil des Universums fast ausschliesslich Materie sieht.
Ob ein Körper im Schwerefeld der Erde fällt oder aufsteigt, sollte eigentlich leicht zu überprüfen sein. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Im Vergleich zu den anderen Naturkräften ist die Gravitation äusserst schwach. Lässt man elektrisch geladene Antiteilchen wie das Positron fallen, genügen schon kleinste elektrische Streufelder, um den Einfluss der Gravitation zu überdecken.
Die Alpha-Arbeitsgruppe am Cern führt ihre Fallexperimente deshalb mit elektrisch neutralen Antiwasserstoffatomen durch. Diese werden erzeugt, indem man einen Strahl von Antiprotonen und einen Strahl von Antielektronen in eine magnetische Falle lenkt, wo sich die beiden Teilchensorten zu Antiwasserstoffatomen verbinden.
Haben sich genug Antiatome in der Falle angesammelt, werden die Magnetfelder abgeschaltet, und die Antiatome können sich unter dem Einfluss der Schwerkraft frei bewegen. Weit kommen sie allerdings nicht. Denn sobald ein Antiatom mit den Wänden der Messapparatur in Berührung kommt, zerstrahlt es. Die dabei freigesetzte Energie lässt sich mit speziellen Detektoren nachweisen. So lässt sich feststellen, ob die Antiatome aufgestiegen oder gefallen sind.
Das klingt relativ simpel. Doch das Experiment hat seine Tücken. Ein erster Fallversuch der Alpha-Arbeitsgruppe im Jahr 2013 lieferte kein eindeutiges Ergebnis. Der Grund dafür war, dass sich die Antiatome in der magnetischen Falle wild hin und her bewegen. Beim Öffnen der Falle stieben sie in alle Richtungen auseinander und werden sowohl oberhalb als auch unterhalb der Falle vernichtet. Ein statistisch signifikanter Unterschied liess sich vor zehn Jahren nicht feststellen.
Viele kleine Verbesserungen bringen den Durchbruch
Inzwischen hat die Alpha-Arbeitsgruppe ihre Falle verbessert. Statt einer horizontalen Ausrichtung der Falle wurde eine vertikale gewählt. Zudem wurden die Antiatome gekühlt, damit sie sich weniger schnell bewegen. Und auch die einschliessenden Magnetfelder lassen sich nun besser kontrollieren. Das ist wichtig, weil kleine Feldschwankungen die Wirkung der Gravitation aufheben können.
Die Gruppe um Jeffrey Hangst von der Aarhus University in Dänemark hat das Fallexperiment am Cern viele Male wiederholt. Immer noch treffen die Antiatome sowohl oberhalb als auch unterhalb der Falle auf die Wände. Diesmal liess sich jedoch eine klare Tendenz erkennen: Etwa 80 Prozent der Atome wurden unterhalb der Falle vernichtet. Die Antiatome werden also von der Erde angezogen. Eine Antigravitation lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschliessen. Das ist eine Absage an kosmologische Modelle, die auf einer Abstossung zwischen Materie und Antimaterie beruhen.
Damit ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen. Denn das Experiment ist noch nicht genau genug, um die Stärke der Anziehungskraft präzise zu messen. Es ist also noch nicht klar, ob die Antiatome genauso schnell fallen wie gewöhnliche Atome. Im Prinzip könnte es sein, dass die Antiatome eine bisher unbekannte (fünfte) Kraft spüren, die die Wirkung der Gravitation teilweise aufhebt.
Das Alpha-g-Experiment ist nicht das einzige Fallexperiment mit Antiwasserstoffatomen am Cern. Es sei den anderen Experimenten aber um Jahre voraus, sagt Paolo Crivelli von der ETH Zürich, der zur konkurrierenden GBAR-Arbeitsgruppe gehört. Ende 2022 sei es seiner Arbeitsgruppe erstmals gelungen, Antiwasserstoffatome in der Falle nachzuweisen. Aber die Antiatome seien noch zu schnell. In Zukunft wolle man sie so erzeugen, dass sie in der Falle praktisch in Ruhe seien. Crivelli hofft, die Stärke der Anziehungskraft dann mit einem Messfehler von weniger als einem Promille messen zu können.
Ein Fallexperiment mit exotischen Atomen
Seine Kollegin Anna Soter von der ETH Zürich bereitet am Paul-Scherrer-Institut in Villigen ebenfalls ein Fallexperiment vor. Sie will allerdings nicht Antiwasserstoffatome fallen lassen, sondern Myonium-Atome. In diesen exotischen Atomen kreist ein Elektron um ein Antimyon. Dieses Teilchen gehört zur gleichen Teilchenfamilie wie das Elektron. Das Besondere an den Myonium-Atomen sei, dass ihre Masse nur von Parametern des Standardmodells der Teilchenphysik abhänge, sagt Soter.
Auch Soter möchte das schwache Äquivalenzprinzip testen. Für normale Materie sei dieses mit einer Genauigkeit von 15 Stellen überprüft worden. A priori gebe es aber keinen Grund, dass das Prinzip auch für Antimaterie und exotische Materieformen gelte. Bis heute wisse niemand, wie man Einsteins Theorie der Gravitation mit dem Standardmodell der Teilchenphysik vereinen könne. Deshalb sei jedes Experiment willkommen, das die Verbindung zwischen diesen beiden Theorien untersuche.
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