Die Judenfeindlichkeit gibt es seit Jahrhunderten. Aber sie ist nicht «ewig», ihre Erscheinungsformen wandeln sich.
Seit den Massakern vom 7. Oktober und dem Krieg in Gaza hat die Debatte über den Antisemitismus eine neue Dringlichkeit erhalten. Das ist nicht überraschend, auch in Europa hat der Antisemitismus wieder Konjunktur. Dabei fällt auf: Der Antisemit ist immer der andere. Rechte beklagen, der Antisemitismus sei «eingewandert». Er sei nicht einheimisch, sondern stamme aus muslimischen Migrantenmilieus. Dort weist man das zurück. Ihr Antizionismus sei kein Antisemitismus. Nicht ihre arabischen Grossväter hätten sechs Millionen Juden ermordet.
Das sind Entlastungsangriffe. Es geht dabei um den bekannten Wunsch nach dem «Schlussstrich» oder um Schuldabwehr. Gewiss, diese Polemiken sind unergiebig, aber sie weisen auf einen wichtigen Umstand hin: Antisemitismus ist nicht gleich Antisemitismus. Es gibt den einheimischen rechten Antisemitismus, es gibt einen muslimischen Antisemitismus, und es gibt den linken Antisemitismus, der sich jüngst auch aus «postkolonialen» Quellen speist.
Seit Hannah Arendt weist die Forschung darauf hin, dass der Antisemitismus zwar jahrhundertealt, aber eben gerade nicht «ewig» ist. Vielmehr wandelt er sich in seinen Ursachen, Absichten und Inhalten. Er passt sich an und kann nur richtig erfasst (und effektiv bekämpft) werden, wenn man ihn in seinen Funktionen versteht. Diese verändern sich mit der Zeit und unterscheiden sich von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Milieu zu Milieu. Was hingegen über lange Zeiträume ähnlich bleibt, sind die antisemitischen Stereotype: ein Vorrat von Bildern und Gerüchten über die Juden, die nur leicht modifiziert immer wieder abgerufen werden.
Rechte Instrumentalisierung
In bester Absicht macht es sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz zu einfach, wenn er die unterschiedlichen Varianten in einen Topf wirft. Es sei gleichgültig, sagte Scholz im November, ob Antisemitismus politisch oder religiös motiviert sei, ob er von innen oder von aussen komme, von links oder rechts, immer vergifte er die Gesellschaft. Der Basler Literaturwissenschafter Caspar Battegay wehrt sich mit Recht gegen solche Verallgemeinerungen: Antisemitismus wende sich eben gerade nicht gegen alle, nicht gegen die Gesellschaft als solche, sondern immer gegen Juden, so Battegay. Und, ist beizufügen, er tut dies in bestimmter Absicht – je nachdem, woher er kommt.
Der traditionelle rechte Antisemitismus ist keineswegs verschwunden. Er hatte seinen Gipfel im Holocaust, der von Deutschland ausging und in vielen besetzten Ländern Europas von willigen Helfern und Kollaborateuren unterstützt wurde. Seither ist sein Hauptmotiv die Leugnung, Relativierung und Trivialisierung des Massenmordes an den europäischen Juden. Die Nachkommen der Haupttäter (stärker in Deutschland, weniger in Österreich) haben seit den neunziger Jahren eine robuste Abwehr dagegen aufgestellt: Sie beruht massgeblich auf historischer Forschung und Aufklärung über die Jahre 1933 bis 1945.
In manchen exkommunistischen Ländern, die sich heute primär als Opfer sowjetischer Unterdrückung nach 1945 verstehen und ihre Rolle im Holocaust wenig aufgearbeitet haben, instrumentalisieren nationalkonservative Politiker weiterhin den Antisemitismus. Das offensichtliche Beispiel ist die Kampagne von Viktor Orban gegen George Soros. Mit eindeutig antisemitischen Anspielungen warf er dem jüdischen Milliardär vor, muslimische Flüchtlingsströme nach Europa lenken zu wollen. Mit dem Ziel der «Umvolkung» des Kontinents.
Das ist ein klassisches rechtes Motiv: Die jüdische Verschwörung gegen die Nation, die «entlarvt» werden muss. Dahinter steht das Bild der Juden als wesensfremde, nicht integrierbare und für die Heimat schädliche Gruppe. Den Topos wenden die gleichen Politiker bei Bedarf auch auf Muslime an. Antisemitismus und Islamophobie sind – in diesem Kontext – zwei Varianten eines Diskurses.
Muslimische Opferkonkurrenz
In der Geschichte des Islam spielt Antisemitismus erst seit dem 20. Jahrhundert eine wesentliche Rolle. Zuvor hatte der traditionelle muslimische Antijudaismus die Juden als schutzbedürftige Bürger zweiter Klasse betrachtet. Das war eine ganz andere Haltung als die der christlichen Judenfeinde, wie der Historiker Matthias Küntzel zeigt: Für sie waren die, die den Gottessohn getötet hatten, eine dunkle und übermächtige Gemeinschaft.
Im arabischen Raum kamen Muslime erst in den 1930er Jahren mit dem modernen Antisemitismus in Kontakt. Er war ein deutsches Exportprodukt, mit dem die Nazis das Ziel verfolgten, die Araber gegen die britischen Pläne für einen jüdischen Teilstaat zu mobilisieren. Dieser Antisemitismus wurde von den Muslimbrüdern aufgenommen und nach 1945 selbständig weiter gepflegt. Er verstärkte sich in den arabischen Staaten mit der Gründung Israels und der Vertreibung der Palästinenser. Zu einem festen Bestandteil staatlicher Propaganda wurde er 1979 mit der Machtergreifung schiitischer Islamisten in Teheran.
Mit jeder Drehung der Gewaltspirale in Nahost häufen sich auch in Westeuropa antisemitische Übergriffe, die von Muslimen begangen werden. Aber auch hier muss genau hingeschaut werden. Empirische Studien zeigen, dass eine Mehrheit der Muslime in Europa nicht antisemitisch eingestellt ist. Aber Antisemitismus ist unter Muslimen weiter verbreitet als in der Gesamtbevölkerung.
Wie soll darauf reagiert werden? Die Frage stellt sich besonders in Deutschland, denn dort ist der Holocaust das historische Schlüsselereignis, worauf die Bundesrepublik ihr Selbstverständnis bezieht. Diesen Rahmen müssen auch muslimische Einwanderer und ihre Kinder akzeptieren, die in Deutschland eine neue Heimat suchen. Der Schritt ist ein notwendiger Teil ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft.
Gleichzeitig muss der Geschichtsunterricht den Kindern sowohl der Eingesessenen wie auch der Einwanderer die Zusammenhänge aufzeigen, die zwischen Antisemitismus, Zionismus, dem Holocaust und der Flucht und Vertreibung der Palästinenser bestehen. Es war der europäische Antisemitismus, der die Juden dazu brachte, für ihre Sicherheit nur noch auf sich selbst zu vertrauen. Aber es waren nicht die Europäer, sondern die Palästinenser, die dafür einen Preis zahlten.
Linke Schwarz-Weiss-Malerei
Den linken Antisemitismus dürfte es eigentlich gar nicht geben. Denn im linken Verständnis gliedern nicht Nationen, Religionen oder «Rassen» die Welt, sondern soziale Klassen. Dennoch finden sich schon bei Karl Marx, der selber Jude war, antisemitische Textstellen: etwa jene über die «Geldherrschaft», die er mit dem Judentum verknüpft.
Heute dreht sich die linke Debatte meist um die Natur der sogenannten «Israelkritik», die Frage, welche Auseinandersetzung mit Israel antisemitisch sei und welche nicht. Angeheizt wird die Auseinandersetzung durch die Konjunktur von postkolonialen Theorien. Sie untersuchen die Geschichte des Kolonialismus und damit verbundene Hierarchisierungen, die bis heute fortwirken sollen. Die Postkolonialisten sehen die Welt buchstäblich schwarz-weiss: Europäische Ausbeuter gegen nichtweisse Unterdrückte.
Auf den Nahostkonflikt umgelegt, erscheinen dann die Juden als weisse, privilegierte Kolonisten und Landräuber. Ausgeblendet wird, dass viele Juden aus Iran sowie arabischen und nordafrikanischen Ländern vertrieben wurden (also keineswegs «Weisse» im Sinn der Theorie waren) und dass andere ins heutige Israel Eingewanderte europäische Überlebende des Holocausts waren. Sind das nun Täter oder Opfer?
Dass auch in Europa um diese Fragen hochemotionale und erbitterte Kämpfe ausgetragen werden, ist eigentlich erstaunlich. Nicht nur die Geschichte des Nahen Ostens zeigt doch immer wieder, dass aus Tätern Opfer werden können und aus Opfern Täter – mehr noch: dass Opfer gleichzeitig auch Täter sein können.
Auch die Behauptung, die Grenzen zwischen Kritik an israelischer Politik und antisemitischen Unterstellungen seien unklar und fliessend, leuchtet im Grund nicht ein. Nur ein Antisemit kann den Juden das Recht auf ihre Heimat bestreiten, und die ist nun einmal Israel. Aber jeder soll kritisieren dürfen, wenn israelische Siedler im Westjordanland eine illegale Landnahme auf Kosten der Palästinenser betreiben.
Aleida Assmann, die deutsche Doyenne der Erforschung von Erinnerungskulturen, plädiert mit gutem Grund für Differenzierung. Wir müssen die unterschiedlichen Funktionen des Antisemitismus erkennen, um ihn bekämpfen zu können: den «Schlussstrich» der Rechten durch die Relativierung des Holocausts, die Aberkennung des Existenzrechts Israels durch Islamisten, die Karikierung des Landes als weisses Kolonialprojekt durch Linke. Es gibt nicht den einen Antisemitismus, aber er richtet sich immer nur gegen eine Gruppe.