Nach dem Attentat auf einen orthodoxen Juden in Zürich will sich die politische Linke nicht mit unangenehmen Fragen befassen. Ein Fehler.
Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein Drittel aller Parlamentarier wutentbrannt aus dem Ratssaal stürmt. Diese Woche ist das im Zürcher Kantonsrat geschehen. Der Auslöser war eine Wortmeldung eines SVP-Politikers im Nachgang zur Messerattacke auf einen orthodoxen Juden in der Stadt Zürich.
Was hat der SVP-Mann Tobias Weidmann so Abscheuliches gesagt, dass die vereinigte Linke mit SP, Grünen und Alternativen geschlossen Reissaus nimmt?
Weidmann wandte sich in seinem Votum gegen Antisemitismus, der in allen Schichten und politischen Lagern vorkomme. Er erwähnte auch – und das brachte die Linke in Wallung –, dass die heutigen Judenfeinde oft nicht mehr in Springerstiefeln, sondern mit Arafat-Tuch oder Che-Guevara-T-Shirt daherkämen. Er spielte auf die antikapitalistische Linke an, die ihren Antisemitismus als «Israelkritik» kaschiere. Und auf muslimisch geprägte Migrantenmilieus, wo Judenhass zum Alltag gehöre.
Die kurze Erklärung war angriffig formuliert, stellenweise sicher pauschalisierend. Aber rechtfertigte sie die kollektive Entrüstung auf linker Seite?
Die Messerattacke vom vergangenen Wochenende war ein Dammbruch sondergleichen, ein antisemitisch, islamistisch motivierter Terroranschlag mitten auf Zürichs Strassen. Es ist richtig, dass ein solcher Vorfall zu intensiven, auch politischen Diskussionen führt. Ein Ort für solche Debatten sind die Schweizer Parlamente, die das «Sprechen» (vom französischen «parler») im Namen tragen.
Wenn sich die Linke vor solchen Diskussionen drückt, dann verhält sie sich wie die drei Äffchen aus der japanischen Legende: Sie will nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Es ist ein Mechanismus, der sich auch schon bei der Diskussion um Nationalitätennennung in Polizeimeldungen gezeigt hat: Aus falsch verstandener Toleranz verschweigt man unangenehme Fakten oder redet sie klein. Das hat noch nie ein Problem gelöst.
Eine SP-Vertreterin erklärte den Sturm aus dem Ratssaal später damit, dass die SVP den Messerangriff dazu benutze, «gegen Ausländer zu hetzen». Für die Linke gehöre der Kampf gegen Antisemitismus und gegen Rassismus aber unweigerlich zusammen.
Die empörte Linke macht es sich mit dieser Begründung zu einfach. Natürlich sind Antisemitismus und Rassismus ein gesamtgesellschaftliches Problem. Das ist eine Binsenweisheit und wirkt im Kontext der Tat vom Wochenende verschleiernd. Denn in der Nacht auf den Sonntag wurde nicht irgendjemand von irgendeinem angegriffen. Ein junger Muslim hat einen orthodoxen Juden niedergestochen. Der 15-Jährige hat sich sein Opfer nicht zufällig ausgesucht, in seinem Bekennervideo hetzt er auf widerliche Weise gegen Jüdinnen und Juden.
Dass Antisemitismus unter jungen, sehr religiösen Muslimen in der Schweiz überproportional verbreitet ist, zeigt eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Über 30 Prozent von ihnen sind demnach antisemitisch eingestellt; bei gleichaltrigen gläubigen Christen sind es 9 Prozent. Das sind selbstredend Annäherungswerte, basierend auf einer Befragung. Sie dürfen nicht auf die Goldwaage gelegt werden und schon gar nicht zu Kurzschlüssen verleiten: Nicht alle jungen Muslime sind Antisemiten, und schon gar nicht alle werden zu Gewalttätern wie der 15-jährige Attentäter von Zürich.
Dennoch müssen Studienerkenntnisse wie diese, aber auch alltägliche Beobachtungen an Schulen und in den sozialen Netzwerken zu denken geben – und zum Handeln animieren.
Radikalisierung geschieht nicht über Nacht, sondern über einen längeren Zeitraum. Auch der Täter von Zürich soll im Vorfeld in der Schule seltsam aufgefallen sein. So habe er sich etwa in kruden Online-Foren herumgetrieben, wie «20 Minuten» mit Verweis auf Mitschüler schreibt. Solche Signale müssen von Schulen und Behörden ernst genommen werden. Die besten Präventions- und Radikalisierungsfachstellen zeigen wenig Wirkung, wenn sie nicht in jenen Milieus aktiv sind, die besonders anfällig sind für – in diesem Falle – Antisemitismus.
Dass man über solche Zusammenhänge spricht, ist notwendig und per se nicht rassistisch. Seit der Tat vom Wochenende gilt das umso stärker.