Es sei eine Lebenslüge, dass die Deutschen von der Judenvernichtung nichts gewusst hätten, sagt der Psychologe Louis Lewitan. Sie hätten einfach ihr Gewissen abgestellt.
Herr Lewitan, gemeinsam mit Stephan Lebert haben Sie Interviews geführt für ein Buch über die «vererbten Traumata des Krieges» und das Beschweigen der NS-Verbrechen in den deutschen Familien. Wie gravierend sind diese Folgen heute noch?
Sie sind gravierend, weil die Ermordung von Millionen Menschen nicht «aufzuarbeiten» ist. Gerade in diesen politisch turbulenten Zeiten ist es wichtig, zu begreifen, warum sich so viele Menschen daran beteiligt haben.
Sie schreiben, dass Eltern, die ihre eigenen Traumata nicht lösten, diese Aufgabe unbewusst ihren Kindern überliessen. Was heisst das in Bezug auf den Nationalsozialismus, die Kriegsverbrechen, Schuld und Scham?
Während die Trümmerfrauen die Schuttberge abgetragen haben, haben sich viele dafür entschieden, die seelische Trümmerlandschaft nicht anzuschauen und nicht zu betreten. Und in jeder Familie gab es einen Trümmerhaufen.
Der Philosoph Hermann Lübbe sagte einmal, dass Deutschland ohne Verdrängung gar nicht mehr auf die Beine gekommen wäre.
Ich würde der These widersprechen, dass es nicht anders gegangen sei, im Gegenteil hätte der «deutsche Patient» wahrscheinlich viel mehr für seine Psyche tun können, wenn er sich zu dem bekannt hätte, was im Namen Deutschlands geschehen war. Zu lange wurde die Realität verweigert, zu lange wurde geschwiegen.
Die Aussagen der von Ihnen Befragten zeugen davon, dass die Deutschen in der NS-Zeit vieles wussten, aber nicht darüber sprachen. Welches sind die Folgen, wenn Traumata verdrängt werden?
Der Begriff des Verdrängens ist allgemein negativ konnotiert. Als klinischer Psychologe betrachte ich die Verdrängung jedoch als gesunden Schutzmechanismus, solange sie nicht in Verleugnung übergeht. Die angeschlagene Seele schützt sich, indem sie schmerzhafte, anhaltende seelische Belastungen vorübergehend auf Abstand hält.
Zur Person
Louis Lewitan, Psychologe
1955 in Lyon geboren, wuchs Louis Lewitan als Sohn jüdischer Eltern ab 1966 in München auf. Er ist klinischer Psychologe, Autor und Coach im Bereich des Führungs- und Krisenmanagements. Von 1986 bis 1991 war er Geschäftsführer des Instituts Jerome Riker International Study of Organized Persecution of Children in New York. Dort werden die Spätfolgen der Shoah bei Kinder-Überlebenden und deren Nachkommen erforscht für ein besseres Verständnis von Resilienz bei Überlebenden und deren Nachkommen. Gerade erschienen ist sein (gemeinsam mit dem Journalisten Stephan Lebert verfasstes) Buch «Der blinde Fleck. Die vererbten Traumata des Krieges und warum das Schweigen in den Familien jetzt aufbricht». (Heyne-Verlag, München 2025. 304 S., Fr. 37.90.)
Wäre es nicht ohnehin unrealistisch, zu erwarten, dass eine deutsche Familie sich in den fünfziger Jahren an den Tisch gesetzt und beim Sonntagsbraten gesagt hätte: So, Onkel Hermann, jetzt erzähl uns doch mal bitte, wie das war damals in der Wehrmacht oder in der SS?
Stimmt. Das Unsagbare lässt sich nicht benennen. Väter, die aus dem Krieg heimkehrten, wurden oftmals in Ruhe gelassen und nicht mit quälenden Fragen konfrontiert. Die Mütter halfen dabei, indem sie beschwichtigten, verharmlosten und die Väter entlasteten: «Lass ihn, er hat so vieles Schreckliches durchgemacht.»
Es war ein bewusster Entscheid, sich dem nicht zu stellen. Was passiert da aus psychologischer Sicht?
Dann reden wir von der Lebenslüge.
Damit ist die Mehrzahl in der Nachkriegszeit davongekommen und musste nie Rechenschaft ablegen. Die allererste Allensbach-Studie des 1949 gegründeten Instituts untersuchte die «Entnazifizierung»: Ein paar tausend Leute seien inhaftiert, grössere Gruppen gebüsst, aber dem Rest sei ein Persilschein in die Hand gedrückt worden, so die ernüchternde Bilanz. Die Studie verschwand schnell im Giftschrank. Was folgte dann?
Nach 1945 herrschte eine Verschwörung des Schweigens. Durch diese unausgesprochene Übereinkunft deckten die Täter sich gegenseitig. Der Massenmord wurde totgeschwiegen. Im familiären Rahmen schob man oft die Kinder vor, unter dem Vorwand «Ich will die Kinder nicht belasten», dabei wollten sich die Eltern selbst nicht mit der Wahrheit auseinandersetzen. Wenn die Kinder Fragen stellten, wurden diese mit Allgemeinplätzen beantwortet wie: «Ja, es war schrecklich. Ja, wir haben gehungert. Ja, da ist schon vieles passiert, ja, ich habe danebengeschossen.» Die Kinder konnten schlecht ihre Väter fragen: «Kann es sein, dass du einen Menschen umgebracht hast?»
Gerade Kinder sind jedoch nicht so schnell zu täuschen. Die Autorin Charlotte Link erzählt von ihrem Vater, der als Junge auf einer Parkbank den Satz «Hier dürfen keine Juden sitzen» las – wie ihn dieses Erlebnis verstörte, wie es unbeantwortet blieb und ihn ein Leben lang begleitete. Was steckt hinter der deutschen Lebenslüge «Wir haben nichts gewusst»?
Man muss sehen, dass nicht nur die grossen Verbrecher die Hauptschuld tragen. Sondern auch jene, die sich schweigend abgewandt haben, die nicht hingeschaut haben, die davon profitiert haben. Allein wie die Deportationen, die Enteignungen stattfanden, wie die Versteigerungen öffentlich angekündigt wurden, da kann man absolut nicht sagen: «Ich habe nichts gewusst.» Die Menschen bereicherten sich wie Aasgeier im Wissen, dass dieser Besitz Menschen gehörte, die nicht mehr da sind. Es gab nicht nur jüdische Anwälte und Ärzte, die verschwanden; auch in der linken, politisch aktiven Arbeiterschaft waren die Leute plötzlich weg. Man stellte sein Gewissen ab und wollte tatsächlich nicht wissen, was passierte. Das war die kollektive Lüge.
Was passiert, wenn sich so etwas festsetzt und an die Nachfahren weitergegeben wird?
Das Trauma ist wie ein eingekapselter Fremdkörper, der ständig über einem schwebt und einen zu erschlagen droht. Somit ist jeder traumatisierte Mensch kein freier Mensch. Ein Trauma begleitet einen durchs Leben und lässt sich nicht abstellen. Man muss lernen, es als Teil der eigenen Identität zu begreifen. Geschieht das nicht, muss man so viel Energie aufwenden, um das Belastende fernzuhalten, dass man nicht mehr die psychische Kapazität hat, sich fokussiert auf den Alltag, auf die Familie einzulassen. Daher ist Verdrängung als Übergangsphase verständlich, nachvollziehbar und nicht zu verurteilen – vorausgesetzt, der Mensch ist irgendwann mündig und verantwortungsvoll und stellt sich dem, was ihn bedrängt und verfolgt.
Gerade hat sich in der «FAZ» der Schriftsteller Andreas Maier im Kontext der postum publik gewordenen NSDAP-Mitgliedschaft von Siegfried Unseld geäussert. Maier fragt sich, weshalb weder er selbst noch jemand anderes dem Suhrkamp-Verleger jemals die entsprechende naheliegende Frage gestellt habe. Der Schriftsteller leitet das aus seiner Familiengeschichte her, bezeichnet sich als «Schweigekind». Er spricht vom «generationenübergreifenden Schweigekartell». Weshalb wird das Schweigen jetzt gebrochen?
Die Enkelgeneration hat das Privileg, in einer Demokratie aufgewachsen zu sein, in der Widerrede und das Hinterfragen von Normen nicht mehr tabuisiert, sondern erwünscht sind. Die Grosseltern sind meist bereits verstorben, wodurch direkte Konfrontationen oder Streitigkeiten mit den Eltern, die sich früher schützend vor die fragilen Grosseltern stellten, entfielen. Die Enkel stehen nicht mehr in einer blinden Loyalität gegenüber den Grosseltern. Sie können erkennen, was damals falsch war, ohne ihre Eltern und Grosseltern pauschal zu verdammen, wie es bei den 68ern passierte.
Sie sagen, zwei Drittel der Deutschen möchten mehr über die Zeit von 1933 bis 1945 wissen. Ein überraschender Befund, die deutsche Debatte handelt kaum davon.
Wir haben mit Prominenten gesprochen, aber auch spontan das Gespräch mit Leuten auf der Strasse gesucht: Guten Tag, ich bin Psychologe und habe ein paar Fragen. Haben Sie überhaupt Zeit? Und ich bekam nie eine Absage. Nur einmal hat eine Frau angefangen zu weinen und konnte nicht darüber sprechen. Aber grundsätzlich wollten die Leute sprechen. Wir haben aber auch bewusst nie den Eindruck vermittelt, dass wir jetzt moralisch bewerten oder verurteilen wollen. Der frühere Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg sagt interessanterweise, er sei nie zur Familiengeschichte befragt worden. Man hätte auch zu früheren Zeiten manche Politiker fragen können und hat das nicht getan.
Ist es nicht ein bisschen heuchlerisch, zu sagen: Ich bin nie gefragt worden, also habe ich nie etwas gesagt?
Es geht uns nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger auf Deutschland zu schauen und zu sagen: Was ist das nur für ein Land der Verdrängung und Verleugnung. Ich glaube, es gibt wenige Länder, die so aktiv versucht haben, sich dem Grauen, dem Unfassbaren anzunähern.
Dann haben vielleicht die Vergangenheitspolitik und die Erinnerungskultur der letzten vierzig Jahre, die oft nur noch als ritualisierte Routine abgetan werden, doch etwas gebracht? Indem das offizielle Deutschland den privaten Lebenslügen einen Spiegel vorhielt. Weil sich hier explizite Verantwortung für die Verbrechen der Deutschen manifestierte?
Es gibt keine kollektive Schuld, aber sehr wohl eine individuelle Verantwortung für die Demokratie. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie lässt sich diese Verantwortung in ein kollektives Engagement für unsere Demokratie umwandeln? Deutschland vermittelt durch seine Erinnerungspolitik zentrale Werte wie Menschenwürde, Toleranz und Zivilcourage. Wieweit diese aber in den Familien ankommen, bleibt fraglich. Letztlich muss jede Generation ihren eigenen Weg finden, mit der Vergangenheit umzugehen, damit Erinnerung nicht zur leeren Hülse verkommt.
Ihr Buch handelt vom Erbe des Nationalsozialismus. Aber natürlich berührt das auch die Opferperspektive. Sie sind Sohn jüdischer Eltern, 1955 in Frankreich geboren. Wie sieht Ihre Familiengeschichte aus?
Meine Eltern kommen ursprünglich aus Warschau. Sie haben vieles erzählt, aber sie haben nie in der Öffentlichkeit über das gesprochen, was ihnen widerfahren ist. Und ich halte mich daran.
Also auch ein Schweigegebot?
Das Schweigen in vielen Familien von Shoah-Überlebenden richtete sich nach aussen, nicht nach innen. Ob Onkel, Tanten, Grosseltern – die ermordeten Verwandten blieben stets präsent. Ihre Ermordung wurde bei uns mal angesprochen, mal verschwiegen, nur um unerwartet wieder aufzutauchen. Nahezu alle meine jüdischen Freunde wuchsen ohne Grosseltern auf. Es gab keine zusammenhängenden Erzählungen darüber, was mit ihnen geschah, nur lückenhafte Geschichten. Wir Kinder von Überlebenden sind mit vielen Fragezeichen aufgewachsen. Was typisch ist, sowohl in Familien von Überlebenden als auch von Tätern: Mit der Zeit, als die Abwehrmechanismen der Eltern schwächer wurden, wuchs deren Bereitschaft, sich partiell mitzuteilen.
Sie schreiben, für die Juden sei eigentlich die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in gewissem Sinne leichter gewesen als für die Deutschen. Das müssen Sie bitte erklären.
Als Opfer musste man nicht mit der moralischen Schuld zurechtkommen, dass man Menschen Unrecht vorsätzlich zugefügt hatte. Man hatte mit der Trauer umzugehen, man vermisste, was einem lieb ist, die Menschen, die Heimat, die Sprache, Besitz, das Selbstverständliche. Das wurde vollends zerstört. Aber die Opfer waren in der Lage, ihr Leid und ihre Erlebnisse mitzuteilen, wenngleich eine breitere Öffentlichkeit – ich rede jetzt über Deutschland speziell – das zum Teil gar nicht hören wollte.
Dagegen lebten die Verbrecher ein Doppelleben, weil sie sich strafbar gemacht hatten. Und diese Schuld lässt sich moralisch nicht tilgen. Das Einzige, was sie machen konnten, war, zu schweigen und zu verschweigen – und keine Fragen zuzulassen. Nach Kriegsende entstand ein einseitig entstelltes Bild des Juden als Opfer, das zur Schlachtbank geführt wird. Dabei hatten viele Juden als Partisanen gekämpft, viele waren in der russischen, der britischen, der amerikanischen Armee.
In der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem fällt auf, wie sehr die Erzählung der Ausstellung fokussiert auf den Widerstand in den Ghettos, auf den Überlebenskampf. Der Fokus führt weg von der Opfer-Erzählung.
Tagtäglich dafür zu kämpfen, am Leben zu bleiben, ist auch eine Form des Widerstands.
Der Historiker Tom Segev hat 1995 dem Umstand, dass die Shoah für Israel identitätsstiftend ist, mit «Die siebte Million» ein Buch gewidmet. Inwiefern gilt das heute noch?
Die Erinnerung an die Shoah ist nach wie vor ein zentraler Bestandteil der israelischen Identität, im Sinne: Es darf nie wieder passieren, dass Juden wehrlos dastehen. Das wiederum muss man im Kontext einer über zweitausendjährigen Geschichte betrachten. Nach der Niederschlagung des jüdischen Aufstandes gegen die Römer wurden Juden versklavt, aus Jerusalem vertrieben, Judäa wurde in Syria Palaestina umbenannt. Das blieb im kollektiven Gedächtnis der Juden haften. Antizionisten unterschlagen diese Geschichte.
Der 7. Oktober hat aber nun genau das gezeigt: wehrlose Juden, die gequält, massakriert, gefangen genommen und entführt wurden – vergewaltigte Frauen, ermordete Kinder, gefolterte Männer. Welches Trauma ist da für Israel aufgebrochen?
Israel hat sich in der Sicherheit gewiegt, unverwundbar zu sein. In mehreren Kriegen hat es sich erfolgreich verteidigt gegen eine arabische Übermacht, deren Ziel die Auslöschung des Staates Israel ist. Die palästinensischen Terroristen haben gezeigt, dass dieser Staat verwundbar ist. Da sind wir wieder am Eingang unseres Gesprächs: Traumata bleiben, werden weitergegeben und können plötzlich wieder aufbrechen. Israel wird immer angesehen als Land der aschkenasischen Juden aus Deutschland, Europa, dem Osten. Dabei vergisst man, dass zu den Israeli über 800 000 sephardische Juden aus arabischen Ländern zählen, die Pogrome, Enteignung und Vertreibung erlebt haben. Der 7. Oktober hat ein kollektives Trauma reaktiviert.
Die aus der Geiselhaft freigekommenen Israeli stehen trotz ihrer Traumatisierung mit unglaublichem Mut und überlebensgrosser Kraft in der Öffentlichkeit, um für die verbliebenen Geiseln zu kämpfen. Wie sehen Sie das als Psychologe? Wie wichtig ist Empathie für Traumatisierte?
Es ist entscheidend, dass Überlebende als Zeitzeugen auftreten, ihre Erlebnisse begreifbar machen. Das zeugt von Resilienz und unbeugsamem Lebenswillen. Empathie ist enorm wichtig, weil traumatisierte Menschen sich in einem Gefühl der Einsamkeit befinden. Und daher ist es wichtig, dass man ihnen Aufmerksamkeit schenkt und Anteilnahme zeigt. Damit sie eben nicht isoliert mit ihrem Trauma stehen.
Im Moment zeigt die Weltöffentlichkeit wenig Empathie mit Israel. Und auch Frauen- und Hilfsorganisationen haben sich nie für die Geiseln eingesetzt. Im Gegenteil ist nach dem 7. Oktober weltweit der pure Antisemitismus und Israel-Hass ausgebrochen. Was passiert da gerade?
Wir müssen zurückkehren zur Erkenntnis, wie schnell etwas eskalierte, das sich über eine lange Zeit entwickelt hatte. Es gibt einen jahrhundertealten Antisemitismus, die Judenfeindschaft wurde auch von der Kirche aktiv propagiert. Die Feindschaft gegenüber Juden hat sich fest etabliert in der Darstellung, wonach Jesus von Juden ermordet worden war. Oder in den antisemitischen Vorurteilen, wonach Juden so und so sind.
In Deutschland kündigte sich der neue Antisemitismus über die letzten Jahre unübersehbar an, von der Ruhrtriennale bis zur Documenta. An der Berliner Humboldt-Uni musste ein von randalierenden Israel-Hassern besetzter Hörsaal polizeilich geräumt werden. Aber es erscheint wie eine Symptombekämpfung. Während die Menschen für die Palästinenser auf der Strasse demonstrieren, bleibt die Solidarität mit Israel gering, das offene Bekenntnis gegen den Judenhass fehlt weitgehend. Was bedeutet diese Entwicklung für die deutschen Juden?
Juden in Deutschland sind wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Der Vorwurf, die Juden seien schuld am Nahostkonflikt, befremdet. Man kann Juden nicht in Kollektivhaftung nehmen für das Vorgehen des israelischen Staates. Sehen Sie, Juden leben in Deutschland schon jetzt in einer Parallelwelt. Was macht es beispielsweise mit jüdischen Kindern, deren Schule polizeilich geschützt wird, die sich vor der Schule nicht aufhalten oder dort spielen dürfen?
Sie stammen ursprünglich aus Frankreich, wo der jüdische Exodus nach Israel seit Jahren anhält. Sie haben auch zwei erwachsene Töchter. Wie sehen Sie die Zukunft hier?
(Schweigt lange.) Die Zukunft der Juden in bestimmten europäischen Ländern wie Frankreich, Belgien und Schweden ist angesichts des virulenten Antisemitismus und Antizionismus alles andere als gesichert. Man denke nur daran, wie viele Juden einst in der Sowjetunion, in Polen, Marokko und Tunesien lebten und vor den Anfeindungen fliehen mussten. Heute fühlen sich viele von ihrer Regierung und der Gesellschaft im Stich gelassen. Die Geschichte droht sich zu wiederholen, wenn die Menschen nichts aus ihr lernen. Es ist an der Zeit, dass der Staat dafür sorgt, dass Jüdinnen und Juden nicht wie eine bedrohte Minderheit unter Artenschutz gestellt werden. Ein Staat, der Antizionismus und Antisemitismus gewähren lässt, verliert seinen demokratischen Charakter.
Am 8. Mai ist es 80 Jahre her seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Was erwarten Sie von der Politik gerade im Hinblick auf diesen Jahrestag?
Aus jüdischer Perspektive erwarte ich im Grunde das, was jeder Demokrat erwarten sollte: dass der 8. Mai als Tag der Befreiung gefeiert wird, weil der Nationalsozialismus besiegt wurde. Solange die Deutschen nicht begreifen, dass es keine Schande ist, den Krieg verloren zu haben, sondern es das Beste ist, was ihnen widerfahren ist, so lange bleibt unsere Demokratie fragil. Viele denken immer noch, man dürfe die Grosseltern nicht verraten, weil sie für Deutschland kämpften und gestorben sind. Aber die sind für Hitler in den Krieg gezogen, nicht für Deutschland.