Als Bestseller-Millionär und juristischer Volkspädagoge tingelt der Schriftsteller seit Monaten mit seinem Text «Regen» durch Deutschland.
Nein, diesmal stimmt das Publikum nicht ab, ob ein Angeklagter freizusprechen ist oder nicht. Bei der Fernsehfassung von Ferdinand von Schirachs Stück «Terror» durften die Zuschauer selbst entscheiden. 86,9 Prozent fanden, dass der Luftwaffenmajor richtig gehandelt habe, ein entführtes Passagierflugzeug abschiessen zu lassen, um noch weit Schlimmeres zu verhindern. Bei der neuen Schirach-Verfilmung «Sie sagt. Er sagt.» herrscht höchstens inneres Raunen.
Im holzvertäfelten Saal des Berliner Landgerichts sieht man Menschen von einem scheinbar flüchtigen Augenblick erzählen, der ihre Erinnerung niemals wieder verlassen wird. Eigentlich ist es eher ein «Sie sagt»-Film. Der mutmassliche Täter enthält sich über weite Strecken der Aussage, also spricht das Opfer. Ganz ruhig. Vielleicht ist es ihre professionelle Kühle, die der als Fernsehmoderatorin arbeitenden Frau etwas schillernd Wahrhaftiges und gleichzeitig Kalkulierendes gibt.
Der erfahrene Regisseur Matti Geschonneck hat die Schirach-Vorlage für das ZDF als Gerichtskammerspiel inszeniert. Ina Weisse spielt die Fernsehfrau Katharina Schlüter, Godehard Giese den der Vergewaltigung beschuldigten Unternehmer. Matthias Brandt darf das Rollenbild eines eitlen Anwalts gerade so weit ins Schrille ausdehnen, dass die Sache nicht kippt.
Traumquote beim ZDF
«Sie sagt. Er sagt.» ist der Fall eines Paares, das lange eine heimliche Affäre hatte. Nach der eigentlichen Trennung schläft man noch einmal miteinander. Mitten im Akt sagt sie dann doch Nein, aber er hört nicht auf. Es gibt bei dieser die Beziehung endgültig sprengenden Intimität keine Zeugen, nur ein rotes Kleid wird später eine gewisse Rolle spielen.
Alles in diesem Film ist minuziös getaktet. Blicke, Worte, Tonlagen. Ferdinand von Schirach hat sein Feinmechanikerdasein in moralischen Fragen auf langweilige Art perfektioniert, aber Matti Geschonneck dreht an noch viel kleineren Schrauben. Er ist es, der die konstruierte Vorlage psychologisch weitertreibt. Am Ende weiss man nur, dass man gar nichts weiss. Und nebenbei, dass das ZDF vor allem dank Ferdinand von Schirach wieder einmal eine Traumquote eingefahren hat. Das Hauptabend-Konkurrenzprodukt «Wer wird Millionär?» wird weit abgehängt.
Der Anwalt und Schriftsteller von Schirach ist längst ein solcher Millionär. Er ist der Rechtsbeistand der deutschen Herzen. Dass der Begriff der Schuld sehr ambivalent ist, meisselt er mit kurzen Sätzen in seine Geschichten. Bisweilen drängt es den Autor auch ins Politische. Vor zwei Jahren hat er das Manifest «Jeder Mensch» veröffentlicht. Eine Art persönliches Grundgesetz des Verfassers. Ginge es nach Ferdinand von Schirach, wären die sechs Artikel auch vor europäischen Gerichten einklagbar.
Es geht um das Recht, «in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben». Um digitale Selbstbestimmung, künstliche Intelligenz und Globalisierung. Gerüchte machten die Runde, dass der Koalitionspakt der deutschen Ampelregierung Ferdinand von Schirachs Vorschläge gleich abgekupfert habe. Bis auf einen: «Artikel 4 – Wahrheit». Darin heisst es: «Jeder Mensch hat das Recht, dass Äusserungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.» Vielleicht ist das Gerücht Satire, würde es stimmen, wäre es Realsatire.
Eine weitere Einmischung Ferdinand von Schirachs in öffentliche Debatten hat mit dem Thema von «Sie sagt. Er sagt.» zu tun, mit #MeToo. Schirach hatte im letzten Herbst im «Stern» dafür plädiert, Medien mit hohen Geldstrafen zu belegen, «falls eine unzutreffende Berichterstattung dazu führt, dass das Ansehen eines Betroffenen erheblich geschädigt wird».
Möglichkeiten, Medien juristisch abzumahnen und Schadenersatz wegen Rufschädigung zu fordern, gibt es längst. Schirachs Vorschlag hätte sich aber auf heiklem Terrain bewegt. Wäre #MeToo jemals das geworden, was es heute ist, wenn Anschuldigungen von Opfern nicht in die Medien gelangt wären? Dreht Ferdinand von Schirach hier eine juristische Extrarunde? Verdachtsberichterstattung gibt es ja nicht nur in Fällen von #MeToo.
Öffentliche Präsenz kann zu vielgestaltigen öffentlichen Verrenkungen führen. Man konnte das am Volksphilosophen Richard David Precht sehen, dessen mediale Selbstentfesselungen eines Tages nicht mehr klappten. Vielleicht füllt Ferdinand von Schirach da irgendwann eine Lücke. Wer 2019 das Fernsehporträt «Die Würde des Menschen» gesehen hat, der wusste: Da versucht einer, seine eigene Würde nicht zu verlieren.
Schirachs Eitelkeit hat einen intellektuellen Rettungsanker, der hoffentlich auch weiterhin nicht versagt. Als Bestseller-Millionär und juristischer Volkspädagoge tingelt der Schriftsteller seit Monaten durch ausverkaufte Hallen in Deutschland. Den Monolog «Regen» hält von Schirach gleich selbst. Im Smoking und mit Zigarette wird er demnächst in Remchingen, Mainz und Bad Elster auftreten. In Erfurt, Düsseldorf, Dessau, Freiburg, Essen, Göttingen, Hamburg, Bremen, Hannover und Frankfurt war er schon.
Schirach rümpft die Nase
«Regen» ist der Hamlet-Monolog eines depressiven, erfolglosen Schriftstellers, ein bildungsbürgerliches Trollformat von ergreifender Schlichtheit. Der Kabarettist Mario Barth hätte das auch so hinbekommen. «Der Sportler, das ist der moderne Mensch. Sie erkennen den modernen Menschen daran, dass er einen Rucksack trägt», heisst es im Stück.
Als Kulturpessimist sitzt Ferdinand von Schirach auf der Bühne und rümpft die Nase, weil man sich Botticelli heutzutage nicht nur im Museum ansehen kann, sondern auch auf dem Laptop. Existenzielles Zusatz-Fazit des Textes: Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.
Schirach, dessen erfolgreichste Bücher «Verbrechen», «Schuld» und «Strafe» heissen, watet siebzig Minuten durch den Sumpf einer Gegenwart, die es mit den wirklich existenziellen Fragen nicht mehr aufnehmen kann. Während es Matti Geschonneck mit seinem Film «Sie sagt. Er sagt.» gelingt, den Autor in alter Grösse erscheinen zu lassen, arbeitet dieser in Remchingen und Bad Elster an seiner eigenen Selbstverkleinerung.
Das Publikum nimmt ihm das nicht übel, denn je deutscher das Land ist, umso mehr stechen die Trümpfe einer gar nicht so langen, aber sensationell erfolgreichen Karriere. Ferdinand von Schirach, der Enkel eines bei den Nürnberger Prozessen verurteilten NS-Gauleiters, hat in seinem Werk die Fragen von Moral und Schuld neu gestellt. Er hat aus seiner Erfahrung als Anwalt die Wahrheitsfindungsprozesse bei Gericht allgemeinverständlich erklärt und Deutschland durch tätige Unterstützung des öffentlichrechtlichen Fernsehens zur juristischen Mitmach-Republik werden lassen.
Der Common Sense, das Schirachsche «Wie würden Sie entscheiden?», hing über Themen vom Terroranschlag bis zum ärztlich begleiteten Suizid. Alles das ist noch überwölbt durch Ferdinand von Schirachs private, wohl kaum revolutionäre Überzeugungen: Man kann schneller zum Verbrecher werden, als man glaubt. Und: Moral ist meist relativ.
«Die Vorstellung, dass ein Mensch nur gut oder nur böse ist, ist falsch» ist das Credo eines deutschen Autors, der es gerade durch solche Sätze geschafft hat, als grosser Moralist zu gelten. Ob sein Werk tiefgründige Menschenbetrachtung ist oder konfektionierte Flachware, darüber wird auch weiterhin diskutiert werden. Eine weitere Eskalationsstufe wäre der Precht-Effekt. Man wird sehen.