Noch nie war eine Architekturbiennale so überfüllt wie diese. Die willkürliche Auswahl überfordert, wenn man sich denn nicht einfach treiben lassen will.
Die Disziplin der Architektur steht vor grossen Herausforderungen. Antworten auf die wirklich drängenden Fragen lassen sich an der 19. Architekturbiennale in Venedig allerdings kaum finden. Dabei wären die Problemfelder relativ leicht zu benennen. Der Bausektor ist für etwa 40 Prozent des globalen CO2-Ausstosses verantwortlich: Herstellung von Baumaterialien, Betrieb von Gebäuden, Rückbau und Entsorgung.
Während eine jüngere Generation fordert, auf Neubau zu verzichten und sich auf den Umbau zu konzentrieren, ist klar, dass dies aus verschiedenen Gründen eine Illusion bleibt – in Ländern ausserhalb der saturierten westlichen Welt ohnehin. Gebaut wird also weiterhin. Aber wie? Und was muss sich ändern?
«Intelligens» ist das Thema der diesjährigen Riesenschau in Venedig. Der Titel klingt etwas bemüht, wird doch der lateinische Begriff «gens» in das Wort hineingeschmuggelt, eigentlich Stamm oder Sippe, hier allgemeiner verstanden als Gruppe von Menschen. Es geht, anders ausgedrückt, um Schwarmintelligenz.
Als der Turiner Architekt Carlo Ratti, der auch am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) lehrt, Ende 2023 zum künstlerischen Leiter der diesjährigen Architekturbiennale berufen wurde, herrschte in der Fachwelt alles andere als Begeisterung. Einerseits sah man die Personalie im Kontext der Ernennung des Rechtsaussen-Journalisten Pietrangelo Buttafuoco zum neuen Biennale-Präsidenten. Anderseits störte Rattis technokratisches Verständnis von Architektur: der Glaube daran, dass Probleme keine wirklichen Probleme darstellen, wenn man nur die richtige Lösung kennt.
Die jetzige Schau bildet gewissermassen die Suche nach diesen Lösungen ab. Ratti ist mit seinem Team um die Welt gereist und hat Gespräche geführt. Und er hat einen offenen Aufruf zur Mitarbeit gestartet. Weil der italienische Pavillon in den Giardini saniert wird und somit nicht zur Verfügung steht, konzentriert sich die Hauptausstellung diesmal auf das Arsenale mit seinen riesigen Hallen. 300 Projekte von 570 Mitwirkenden werden gezeigt, das ist eine schier nicht mehr zu bewältigende Masse.
Der Beginn ist eindrucksvoll: Im ersten, komplett dunklen Saal, in den die warme Abluft des Arsenale eingeleitet wird, hängen Unmengen von elektrischen Klimakästen, die sich in einer künstlichen Wasseroberfläche spiegeln. Die darauf folgende Installation «The Other Side of the Hill», unter anderem konzipiert von den Architekturtheoretikern Beatriz Colomina und Mark Wigley und der Designerin Patricia Urquiola, visualisiert auf der einen Seite das exponentielle Wachstum der Menschheit in viertelkreisförmig angehäuften Blöcken. Auf der anderen Seite zeigt sie eine organische Grotte aus wachsenden mikrobischen Strukturen.
Marsvisionen und Elefantendung
Die drei folgenden Ausstellungskapitel heissen wie die Untertitel der Ausstellung «Natural, Artificial und Collective». Mikroben, Myzelien und andere Naturmaterialien spielen als Baumaterialien eine zentrale Rolle, im nächsten Teil sind es Roboter und künstliche Intelligenz. Manches überzeugt, anderes erscheint wie intellektuell aufgeblähtes Leichtgewicht. Die Schwarmintelligenz, so beweist diese Architekturbiennale, führt nicht zu Lösungen, sondern produziert eine Masse an Vorschlägen.
Kuratieren könnte bedeuten, Akzente zu setzen und Auswahlen zu treffen. Dem hat Ratti sich ersichtlich verweigert. Entstanden ist eine riesige Geisterbahn der Ideen, Modelle und Prototypen. Natürlich ist eine Bogenstruktur aus Ziegelelementen mit Beimischung von Elefantendung sympathisch und an einem spezifischen Ort in Thailand sinnvoll. Was das Projekt aber angesichts der drängenden Fragen der Architektur aussagen soll, bleibt offen. Die Ausstellung bleibt seltsam unpolitisch, verweigert sich städtebaulichen Problemen und fokussiert sich auf Einzelprojekte, die ästhetisch oder künstlerisch ihren Reiz haben, aber kein eigentliches Thema erkennen lassen. Was uns Ratti sagen will, bleibt offen.
Wirklich ärgerlich wird es am Ende der Hauptausstellung. Ratti zeigt hier das Ausgreifen architektonischer Ambitionen auf Mond und Mars mit für interstellare Reisen tauglicher Kleidung, lunar ausgelagertem Datenspeicher oder Habitaten in Marskratern. In den 1970er Jahren war derlei Weltraumfaszination noch utopisch und voller Aufbruchspathos. Jetzt steht man ratlos vor Visionen für eine zweite Welt, wenn die erste unbewohnbar wird. Könnte man alles ironisch verstehen, liesse es sich vielleicht akzeptieren. Aber es ist vermutlich doch ernst gemeint.
Rundgang durch die Länderpavillons
Erstaunlich viele Länder haben in diesem Jahr das Biennale-Thema «Intelligens. Natural. Artificial. Collective» aufgegriffen. Ober behaupten das zumindest, denn eigentlich kann man mit dem Motto alles verknüpfen. Das Schweizer Team (Elena Chiavi, Kathrin Füglister, Amy Perkins, Axielle Stiefel, Myriam Uzor) überlagert den Biennale-Pavillon von Bruno Giacometti aus dem Jahr 1952 mit Elementen der Kunsthalle, die Lisbeth Sachs für die Schweizerische Ausstellung für Frauenarbeit (Saffa) 1958 in Zürich realisiert hat. Räumlich ist die Installation ansprechend, das Thema der marginalisierten Architektin wird allerdings nicht anschaulich.
Der deutsche Pavillon ein paar Schritte weiter widmet sich dem Thema der Überhitzung von Städten. Auf der einen Seite kann man sich durch einen Wärmeblock körperlich der Hitze aussetzen, auf der anderen Seite versprechen Hainbuchen Kühlung. Das alles, in der deutschen Presse fast hymnisch gefeiert, ist in seiner polarisierenden Einseitigkeit kurz gedacht und trotz oder aufgrund seiner klaren Inszenierung ein Ärgernis. Wie so oft: Deutschland kann es nicht lassen, anderen zu erklären, wie es besser geht. Immer etwas oberlehrerhaft, simplifizierend und penetrant.
Da hilft der Weg ein paar Schritte zurück zum dänischen Pavillon, welcher derzeit von dem jungen Architekten Søren Pihlmann renoviert wird. Der Gang durch die zum Teil in den Rohbau zurückversetzte Struktur zeigt, welche Masse an Baumaterial für eine solche scheinbar bescheidene Massnahme bewegt wird.
Ähnlich unspektakulär, aber doch inszenatorisch eindrucksvoll zeigt sich der Pavillon des Vatikans. Die mexikanische Architektin Tatiana Bilbao und die spanische Architektin Anna Puigjaner, die an der ETH Zürich den Lehrstuhl für Architecture and Care innehat, bauen ein säkularisiertes Kloster zwischen Arsenale und Giardini für lokale Initiativen um. Zwischen Planen und Gerüsten sind Räume entstanden, in welchen Besucher der Biennale mit den zukünftigen Nutzern informell zusammenkommen können und viel über die Art des Umbaus erfahren.
Ganz ohne den drohenden Zeigefinger kommen einige Länder Osteuropas mit ihren Beiträgen aus. Polen zeigt in einer erfrischend leichten und luftigen, intellektuell auf das Beste irrlichternden Installation all die Elemente und Objekte, die Architektur schützen sollen: vom Dach über die Tür, Bewegungsmelder und Videokameras bis hin zum Gefahren abwehrenden Hufeisen, zur Flasche für die Grundsteinurkunde oder zu Eierschalen im Boden.
Serbien beeindruckt durch eine Decke aus Fadengespinst, die während der Ausstellungsdauer wächst, am Ende aber wieder auf die ursprünglichen Knäuel aufgewickelt und somit rückstandsfrei rückgebaut wird. Estland hüllt einen kleinen Palazzo wie die Plattenbauten in der Heimat mit Wärmedämmverkleidung ein und legt im Inneren Texte aus, in denen die Betroffenen – Bewohner, Ingenieure, Architekten, politische Repräsentanten – miteinander über die Massnahmen diskutieren. Und Ungarn lässt Architekten zu Wort kommen, die ihre eigene Profession aufgegeben haben und in anderen Berufsfeldern zu Erfolg gekommen sind. Quintessenz: Architekten können mehr als Häuser bauen.
Goldener Löwe für Bahrain
Den Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag hat die Jury unter Vorsitz von Hans Ulrich Obrist dem Königreich Bahrain zuerkannt. Der kleine Inselstaat im Arabischen Golf nimmt seit 2010 an der Architekturbiennale teil und hat schon damals die höchste Auszeichnung erhalten. Eine ebenso beachtliche wie berechtigte Erfolgsgeschichte: Die Pavillons von Bahrain verbinden seit Anbeginn klug ausgewählte Themen mit einer gekonnten, aber fast selbstverständlich wirkenden, unprätentiösen Inszenierung. Dazu passt auch die seit je praktizierte Strategie der Eröffnung: Alle Repräsentanten sind da, aber niemand spricht, man unterhält sich.
In diesem Jahr wird ein modulares kühlbares Dach vorgestellt, perfekt in den Raum eingepasst. Es kann in Bahrain auf Baustellen eingesetzt werden oder überall dort, wo Menschen im Aussenraum wohnen oder arbeiten müssen. Der in Venedig vorgestellte Prototyp wird nach Ende der Ausstellung an einen anderen Ort in der Stadt versetzt und kann dort sein zweites, längeres Leben beginnen.
Technische Innovation verbindet sich hier mit lokalen Bautraditionen wie den Windtürmen und den verschattenden Dächern, die nun nicht Carports überdecken, sondern Menschen dienen. Und all das ohne technische Hochrüstung. Ohne Roboter. Und ganz ohne künstliche Intelligenz.
19. Architekturbiennale, Giardini und Arsenale, Venedig, bis 23. November.