Gebaut für die härtesten Touren in Eis und Schnee. Fahrzeuge von Arctic Trucks sehen mit ihren dicken Ballonreifen und Kotflügelverbreiterungen zwar ungewöhnlich aus – aber damit überwinden sie jedes Hindernis.
Eine graue Halle im Osten von Reykjavik. Grau wie der Himmel in Island im Winter. Unscheinbar und langweilig von aussen, innovativ und aufregend von innen. Bei Arctic Trucks (AT) entstehen in Handarbeit extreme Offroader für Arktis und Antarktis. Die Geländewagen mit ihren riesengrossen Ballonreifen und hohen Fahrwerken trotzen jedem Gelände.
Genau das ist der Plan, den ein paar Schrauber 1990 bei einem Toyota-Händler in Reykjavik haben, als sie die ersten Geländewagen umbauen. Denn wer in Island lebt, hat ohne Allradantrieb keine Chance, so schlecht erschlossen ist das Land mit rund 372 000 Einwohnern. Von dem rund 13 000 Kilometer langen Strassennetz ist nur ein kurzes Stück Autobahn, und selbst Hauptverkehrsstrassen sind nicht durchgehend geteert. Ein Eisenbahnnetz gibt es hier nicht.
Abseits der Hauptstadt im Südwesten der Insel bestehen die meisten Strassen aus Schotter. Auch der beste Allradler nützt jedoch nichts, wenn die Reifen im Winter im tiefen Schnee einsinken. Extragrosse Pneus lassen sich dagegen mit geringem Luftdruck fahren, das vergrössert die Aufstandsfläche des Reifens. So sinken selbst schwere Geländewagen bei Schnee seltener ein. Soweit die Theorie der sogenannten Ballonreifen.
Doch einfach grössere Räder montieren und losfahren funktioniert nicht. Wegen der überdimensionierten Räder ändern die Mechaniker auch Fahrwerk und Teile der Karosserie, damit die Walzen in die Radkästen passen. Nach der ersten Probefahrt mit dem Geländewagen steht fest: Es funktioniert. Selbst im Pulverschnee kommt der Bigfoot locker durch – wo sein Fahrer zu Fuss einsinkt.
Die Idee spricht sich in den 1990er Jahren schnell in der Stadt herum, und die ersten Toyota-Kunden fragen nach, ob es die Umbauten nicht auch für ihre Fahrzeuge geben könnte. Es gibt sie. In der neuen Abteilung «Toyota Aukahlutir» (Toyota-Zubehör) entstehen in den nächsten Jahren die ersten Bigfoots für lokale Unternehmen und Behörden, damit sie auch im Winter zuverlässig und sicher durch Island fahren können, auch abseits von Strassen. «Arctic Trucks hat den Bigfoot zwar nicht erfunden, aber wir haben die Umbauarbeiten professionalisiert und auf winterliche Bedingungen ausgelegt – das gab es vorher nicht», erzählt Elvar Palsson, Modifizierungsspezialist von Arctic Trucks und rechte Hand des Gründers Emil Grimsson.
Ein Weltrekord steigert über Nacht den Bekanntheitsgrad
Die Nachfrage wächst in der Folge stetig, so dass Emil Grimsson 1997 Arctic Trucks als eigenständige Firma gründet – spezialisiert auf die Entwicklung und den Umbau von Allradfahrzeugen für extreme Bedingungen. Vier Jahre später erreichen zwei AT Hilux 6×6 den «Südpol der Unzugänglichkeit». Das ist die Stelle der von Eis überdeckten Landmasse der Antarktis, die am weitesten von den Wassermassen des Südlichen Ozeans entfernt ist. Der Punkt liegt 463 Kilometer vom geografischen Südpol entfernt und 3718 Meter über dem Meeresspiegel. Zugleich egalisiert AT den Rekord für die schnellste Fahrt zum Südpol. Das junge Unternehmen wird nun weltweit in der Expeditionsszene wahrgenommen. Die Auftragsbücher füllen sich.
AT modifiziert heute mit etwa 25 Mitarbeitern auch Autos von Ford, Nissan und Jeep. Fahrzeuge mit Leiterrahmen und Starrachsen, also «echte» Geländewagen mit archaischer Fahrwerkstechnik, lassen sich deutlich besser umbauen als etwa SUV von Audi, BMW oder Porsche. Und das hat seinen Grund: Je mehr Elektronik an Bord ist, desto mehr Fahrassistenz-Systeme müssen umprogrammiert werden – ein hoher technischer Aufwand.
Rund 100 Fahrzeuge entstehen pro Jahr, die meisten erhalten grosse Räder in den Dimensionen von 44 oder 46 Zoll Durchmesser. In Island sind sogar bis zu 54 Zoll zulässig. Die passenden Reifen mit breiten Lamellen und bis zu 18 Millimetern Profiltiefe (in der Schweiz und in Deutschland werden 4 Millimeter empfohlen) lassen sich in Handarbeit mit über 170 Spikes ausstatten.
In Island ist dies keine Seltenheit. Elvar Palsson schätzt, dass auf der Insel fast 70 Prozent der Geländewagen der Marke Toyota und der Modelle Hilux, Land Cruiser und 4Runner mit extragrossen Reifen unterwegs sind. «Die meisten Kunden kommen aus den Bereichen Energie, Bergbau, Telekommunikation, Tourismus», sagt Elvar Palsson. «Aber auch Rettungskräfte, Militär und Privatpersonen lassen sich ihre Geländewagen umbauen, um sicher durch den Schnee zu kommen.»
Seit einigen Jahren können Kunden bei Neufahrzeugen ein Arctic-Trucks-Paket bestellen. Sie bekommen dann ihr Fahrzeug fertig vom AT-Vertragshändler ausgeliefert – und dies ist mittlerweile in mehreren Ländern möglich. Auch wenn AT-Fahrzeuge für extreme Kälte entwickelt wurden, funktionieren sie auch in der Hitze, also in Sandwüsten. Die Tochterfirma Arctic Trucks International vertreibt daher das dafür nötige Zubehör in der ganzen Welt.
Je nach Grösse der Räder ändern die Mechaniker Getriebeübersetzung und Differenzial, bei Rädern über 37 Zoll auch noch Übersetzungsverhältnis und Sperrwirkung des Differenzials. Massive Achsträger, Hilfsrahmen, Schutzplatten unter dem Fahrzeugboden und ein System zur Veränderung der Bodenfreiheit stehen bei Kunden mit hohen Ansprüchen an die Geländefähigkeit ihrer Fahrzeuge ebenso hoch im Kurs. Entscheiden sich Kunden für überdimensionierte Reifen, ändern sich auch Kotflügel, Türen und teilweise die vordere Schottwand (Trennwand zwischen Motorraum und Interieur).
Ein solch fundamentaler Umbau ist allerdings nicht nur in Island kostspielig. Für einen Toyota Hilux 6×6 benötigen Mechaniker zwischen 500 und 600 Arbeitsstunden, für einen Mercedes Sprinter zwischen 800 und 1000 Stunden. Einfache Änderungen kosten umgerechnet 6500 Euro, die Kosten der meisten Umbauten liegen zwischen 10 000 und 20 000 Euro.
Auch Elektro-Geländewagen bekommen das arktische Paket
Um noch mehr Aufstandsfläche der Reifen zu erhalten, senken Offroad-Fahrer den Luftdruck manuell ab. AT hat eine Reifen-Luftdruckanlage entwickelt, die sich bequem aus dem Cockpit bedienen lässt und die innerhalb weniger Sekunden über zwei Kompressoren während der Fahrt den Reifendruck erhöhen kann. «Es gibt Situationen im Schnee, in denen kein Anhalten möglich ist, um innerhalb kürzester Zeit den Luftdruck zu ändern – etwa auf Gletschern», erklärt Elvar Palsson.
Auch wenn die meisten Kunden robuste Geländewagen mit Verbrennungsmotoren ordern, denkt AT längst weiter und entwickelt Konzepte für Offroader mit Elektromotor. Vor einigen Wochen erreichte ein von AT modifizierter Nissan Ariya, vom Nordpol aus gestartet, nach 10 Monaten und 27 000 Kilometern den Südpol – als erstes Elektroauto überhaupt. Um durchs Eis zu kommen, rüstete der Polarspezialist den Nissan unter anderem mit 39-Zoll-Rädern, modifizierter Aufhängung und verbreiterten Radhäusern aus.
Der Nissan Ariya zog während der Expedition einen Anhänger, der mit Windkraftanlage und Solarzellen ausgestattet war, um einen Teil des Ladebedarfs entlang der Strecke autonom zu decken.
Als nächstes Projekt steht der Ford F-150 Lightning, die elektrische Variante des meistverkauften Fahrzeugs der USA, auf dem Gelände bereit, um nach Art der Arctic Trucks modifiziert zu werden. 37-Zoll-Räder, Kotflügelverbreiterungen und geändertes Fahrwerk lassen den Ford noch mächtiger aussehen als die Serienvariante.
Der Allradler funktioniert nach den Modifikationen einwandfrei, wie eine Testfahrt beweist. Nur die Fahrdynamik wirkt ein wenig schwammiger als sonst. In Kurvenfahrten kippt die Karosserie stärker zur Seite. Aber Elvar Palsson bleibt gelassen: «Das ist alles im erwartbaren Rahmen, ein Kurvenkünstler wird der F-150 ohnehin nie. Entscheidend ist, wie sich der Verbrauch mit den 37- oder 39-Zoll-Rädern ändert.»
Reichweite und Ankommen sind eben alles, besonders bei Elektrofahrzeugen. Draussen in der Schneewüste, wo bei tiefen Temperaturen die Batterieleistung abnimmt. In Island wie in der Antarktis.