Angela Landolt hat ein Leben lang geschuftet. Doch die Rente reicht ihr nicht zum Leben. Porträt eines ehemaligen Verdingkinds und überzeugten SVP-Mitglieds, das Ja sagt zur 13. AHV.
Für Angela Landolt gibt es nur eine Partei, die SVP. «Die weiss noch, was gut und recht ist», sagt die Baslerin. Gut und recht sind Mütter, die ihren Kindern noch selbst schauen, Beizen, in denen man rauchen kann, und Jobs, in denen man richtig arbeitet, statt Burnouts zu bekommen. Im Herbst möchte die 64-Jährige wieder für das Basler Parlament kandidieren.
Doch mit Christoph Blocher, dem SVP-Übervater, hat Landolt das Heu nicht mehr auf der gleichen Bühne. Grund war seine Bemerkung zum Ausbau der Altersvorsorge, über welche die Bevölkerung am 3. März abstimmt. «Natürlich wäre es schön, eine dreizehnte AHV-Rente zu bekommen», sagte Blocher auf der Albisgütli-Tagung im Januar. «Besser eine vierzehnte.» Er als AHV-Bezüger nähme auch noch eine fünfzehnte. Doch eine verantwortungsvolle bürgerliche Partei müsse sich fragen, wer das bezahlen solle.
Angela Landolt findet Blochers Koketterie «nicht richtig». Schliesslich sei das Geld beim Milliardär vorhanden. «Wenn ihm der Fernseher kaputtgeht, muss er nicht zweimal überlegen. Er kauft einfach einen neuen.»
Bei Angela Landolt, blaue Augen, kurzes blondes Haar, ist das anders. Sie gehört zu den 12 Prozent der Pensionierten, denen die Rente nicht zum Leben reicht und die daher Ergänzungsleistungen beziehen. Zwar hat sie ein Leben lang geschuftet, zuerst als Mädchen im Kinderheim, wo sie die Böden auf Knien schrubbte, später als Coiffeuse, Mutter von drei Kindern, Beizerin und Tramkontrolleurin.
Gemüseeintopf für 2.10 Franken
Doch als im Jahr 2021 ihr langjähriger Partner starb, stürzte Landolt in ein Loch. Sie ging nicht mehr zur Arbeit, zahlte keine Steuern mehr, machte Schulden. Nun sitzt sie auf ihrer weissen Polstergruppe in der Basler Breite, einem ehemaligen Arbeiterquartier. In ihrer schönen Zwei-Zimmer-Altbauwohnung versucht sie vorzurechnen, was sie monatlich erhält.
Der Weg durch den Zahlensalat ist schwierig, Landolt hatte nach dem Tod ihres Partners noch keine Kraft, sich einen richtigen Überblick zu verschaffen. Wenn sie die Miete von 1220 Franken bezahlt hat, bleiben ihr mit AHV und Ergänzungsleistungen nach eigenen Aussagen weniger als 1000 Franken für Essen, Telefonrechnung, Kleider, Körperpflege oder den Kaffee mit Parteifreunden. Die Krankenkassenprämien übernimmt der Staat. Eigentlich hätte Landolt eine Rente von ihrem Ex-Mann zugute, der grösste Teil davon fliesst aber in die Schuldentilgung. In den nächsten Monaten will sie sich darum kümmern, dass sie wenigstens das gesetzliche Existenzminimum von 1200 Franken zum Leben hat.
Landolt kommt zurecht. Sie kocht, wie sie schon immer gekocht hat. Zum Beispiel Gemüseeintopf. Den Brokkoli gibt’s im Denner für 1.60 Franken, zwei grosse Kartoffeln kosten 50 Rappen. Macht total 2.10 Franken für eine Mahlzeit. Fleisch isst Landolt einmal pro Monat. Wenn sie so sparsam einkauft, liegen täglich ein Kaffee im Migros-Restaurant oder auch einmal eine Vorfasnachtsveranstaltung oder ein Kindertheater mit den Enkeln drin. «Aber alles über 30 Franken kann ich grad vergessen.»
Sie hofft daher, dass die Bevölkerung am 3. März Ja sagt zur Initiative für eine 13. AHV der Gewerkschaften – gegen die Empfehlung der SVP. Der Ausbau würde die Schweiz 5 bis 6 Milliarden Franken pro Jahr kosten – und das in schwierigen finanziellen Zeiten. Doch Landolt sagt: «Wenn die Schweiz jährlich so viel Geld für die Entwicklungshilfe ausgibt (im Jahr 2022 waren es 4,2 Milliarden Franken, Anm. der Red.), kann sie auch etwas für unsere Rentner tun.» Damit spricht sie wohl vielen SVP-Wählern aus dem Herzen. Die Genfer SVP fasste die Ja-Parole, gemäss der jüngsten SRG-Umfrage sind gesamtschweizerisch 57 Prozent der Parteibasis dafür.
Das Rentenalter zu erhöhen, wie es die Jungfreisinnigen fordern, kommt für Landolt dagegen nicht infrage – auch wenn das die finanziellen Probleme der AHV wenigstens teilweise lösen könnte. Sie ist überzeugt: «Heutzutage sind die meisten Leute zu sensibel, um bis 66 zu arbeiten.»
Mit sechs Jahren ins Heim
Angela Landolts Geschichte ist zugleich gewöhnlich und ungewöhnlich. Gewöhnlich, weil ein Schicksalsschlag sie in die Armut stürzte. Ungewöhnlich, weil Landolt zu jenen Schweizern gehört, die als Kind Opfer einer fürsorgerischen Zwangsmassnahme wurden.
Als Sechsjährige war Landolt mit einem ihrer Brüder bei den Grosseltern im solothurnischen Dornach zu Besuch. Da fuhren «die Behörden in einem Auto vor und zerrten uns rein». Verwandte hatten die Familie gemeldet, wie in den Akten nachzulesen ist, die Landolt beim Kanton Solothurn angefordert hat. Ihr Vater habe den Lohn vertrunken, die Mutter kein Geld für Essen gehabt, sagt Landolt. Vor ihrem inneren Auge sieht sie heute noch, wie der Vater die Mutter verprügelt hatte, «es ist wie ein Film».
Landolt und ihr Bruder kamen zuerst ins Kinderheim nach Solothurn, im Mai 1969 ins Waisenhaus Mariahilf in Laufen. Die Kinder dürften dort «ein neues Daheim» gefunden haben, schrieb die Vormundin in einem Brief.
Für Angela Landolt fühlte es sich nicht so an. Ihre Mutter durfte sie nur einmal pro Woche für zwei Stunden besuchen: «Ich hatte eine Mutter, aber kein Mami mehr», sagt sie heute. Zwar versuchte die Mutter, ihre Kinder zurückzubekommen, beteuerte, sie sei «keine leichte Frau», wie im Brief nachzulesen ist, den sie an die Behörden schrieb. Vergebens.
Angela blieb im Heim, schrubbte die Böden mit einer Metallbürste, welche die Finger blutig kratzte, mangelte die Bettwäsche für das ganze Heim, jätete und erntete im Garten, der das Gemüse lieferte. Angelas Zeugnisse waren gut, der Schulpsychiatrische Dienst beschrieb das Mädchen als «überdurchschnittlich begabt». Doch gefördert worden sei sie nicht, sagt Landolt heute. Freundinnen hatte sie wenige.
Ihre Kindheit habe sie schon geprägt, sagt Landolt, und das nicht zum Guten. «Wenn du als Kind nirgends hingehört, denkst du, du bist nichts wert.» Doch sie arbeitete gern. «Am Abend bist du auf eine gesunde Art müde», sagt sie: «Nicht wie im Büro, wo man den ganzen Tag in den Computer starrt und am Abend nicht schlafen kann», sagt sie.
1977 begann Landolt in Basel eine Coiffeuse-Lehre am Claraplatz im Kleinbasel, wo sie heute oft Kaffee trinkt oder Flyer für die SVP verteilt. Später heiratete sie, zog ihre drei Kinder auf. Als sie gross genug waren, arbeitete sie im Sekretariat der Firma ihres Mannes, später führten sie zehn Jahre lang zusammen eine Beiz. Nach der Scheidung servierte Landolt im legendären «Klingeli» im Kleinbasel, wo sie ihren langjährigen Partner Hans-Peter kennenlernte. Vor seinem Tod verdiente sie ihr Geld als Tramkontrolleurin.
Hans-Peter tat ihr gut
Wegen des vielen Rauchs im Lokal hat Landolt es heute auf den Bronchien. Aber das war es ihr wert. «Früher kamen die Menschen in der Beiz zusammen, hatten es lustig, gaben sich gegenseitig Halt.» Heute gebe es das Rauchverbot, die Alkoholgrenze fürs Autofahren sei auf 0,5 Promille gesunken, «und die Menschen bleiben daheim und sind einsam».
Die Beziehung zu Hans-Peter hat Landolt gutgetan. Vor allem ihrem Selbstbewusstsein. Auch er war ein Verdingkind. Zusammen haben sie sich für eine politische Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen eingesetzt. Im Jahr 2013 entschuldigte sich die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei allen Opfern, sie wurden finanziell entschädigt.
Eine gute Zeit für Angela Landolt, sie ist stolz auf ihr Engagement. Doch dann erkrankte Hans-Peter an Krebs. Landolt pflegte ihn durch die Krankheit, und als er starb, kippte sie selbst um. Vor Trauer. Sie sah keinen Sinn mehr im Leben, ging nicht mehr zur Arbeit, liess sich krankschreiben, ungefähr eineinhalb Jahre lang ging das so. Rechnungen blieben liegen, auch die der Steuerbehörde. Irgendwann legte Landolts Arbeitgeber ihr nahe, sich frühpensionieren zu lassen, mit 63. Dafür werden ihr heute monatlich 100 Franken AHV abgezogen.
Ihr Schicksal ist nicht ungewöhnlich. Jeder zehnte Schweizer Haushalt schuldet Steuern. Häufig sei die Ursache ein Unglück wie das von Angela Landolt, sagt Pascal Pfister vom Dachverband Schuldenberatung Schweiz der NZZ: «Die grössten Verschuldungsrisiken sind Trennung und Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Krankheit und Unfall.» Wenn man einen kleinen Lohn habe, vertrage es nichts, dann kippe man schnell in die Armut. Vielfach haben Betroffene Anspruch auf Sozialhilfe.
Angela Landolt geht es wieder besser. Sie trifft sich mit ihren Enkeln und Freunden. Doch sie ist nicht geschaffen fürs Alleinsein, sie hätte gerne einen neuen Partner. Als Hans-Peter starb, wünschte sie sich einen neuen Molton. Man sah der Matratze die Krankheit an. Doch sie konnte das Geld nicht aufbringen. Also wandte sie sich an eine Selbsthilfegruppe in Basel, die ihr den Wunsch gewährte.
Landolt zeigt sich überzeugt: Bei einer 13. AHV müsste sie niemanden mehr um Hilfe bitten. «Ich könnte Geld für Notfälle auf die Seite legen.» Und im Gegensatz zu vielen Pensionierten, die Vermögen haben, könnte eine weitere Rente bei Angela Landolt tatsächlich einen existenziellen Unterschied machen. Sollte die Bevölkerung Nein sagen, würde die Baslerin weiter machen wie bisher. Und hoffen, dass ihr Fernseher nie kaputtgeht.