Die «Kunst der Fuge» von Johann Sebastian Bach wirft von jeher Fragen auf. Neue Forschungen zeigen: Das Wunderwerk ist weder seine letzte Komposition noch ein Fragment, wie man fast drei Jahrhunderte lang glaubte.
Es gibt Kunstwerke, deren Ruhm einem angemessenen Verständnis im Wege steht. Zu ihnen gehört fraglos Johann Sebastian Bachs «Kunst der Fuge». Das Werk, das 1751, kurz nach dem Tod des Komponisten, erstmals im Druck erschien, wird heute als «das substanzvollste, originellste und persönlichste Instrumentalwerk aus Bachs Feder» (Christoph Wolff) bewundert.
Obwohl als letztes Wort des alten Bach bestaunt, warf es freilich von Anbeginn Fragen auf: Warum endet diese enzyklopädische Demonstration kontrapunktischer Kunstfertigkeit scheinbar unpassend mit einem Choralvorspiel? Wo liegt die verborgene Logik ihrer undurchschaubaren Gliederung? Und als Frage aller Fragen: Warum bricht die letzte Fuge ausgerechnet nach jener Stelle ab, an der die Tonbuchstaben B-A-C-H in allen vier Stimmen als drittes Thema erscheinen?
Arbeit an der Legende
Erste Antworten schien das überlieferte Material zu liefern. So schrieb Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel, der federführende Redaktor der postumen Druckausgabe, in das hinterlassene Autograf: «NB. Ueber dieser Fuge, wo der Nahme B.A.C.H. im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben.» Nach dieser Lesart sollte das Publikum für den unvollendeten Zustand der letzten Fuge offenbar mit dem besagten Schlusschoral entschädigt werden. Ihn soll Bach, weil er in seinen letzten Lebenstagen erblindet war, «einem seiner Freunde aus dem Stegereif in die Feder dictiret» haben.
Mithilfe von sogenannten Paratexten, also editorischen Hinweisen, wird dem gedruckten Werk hier bereits eine Aura gewoben. Zu ihr tragen nicht nur alle Bemerkungen des Vorworts bei, sondern auch der von Friedrich Wilhelm Marpurg signierte Vorbericht zur zweiten Auflage (1752) und der zwei Jahre später erschienene Nekrolog, an dem wiederum Carl Philipp Emanuel beteiligt war. Demnach habe der alte Bach am Ende seines Lebens ein grosses Publikationsprojekt in Angriff genommen: Es sollte die Erzeugung diverser Fugen (die Bach altmodisch-streng «Contrapunctus» nannte) und Kanons aus einem einzigen, kontinuierlich variierten Thema demonstrieren, und zwar buchstäblich nach allen Regeln der Kunst.
Ausgerechnet über der Arbeit an der letzten Fuge, in der er sinnigerweise mit seiner Namens-Signatur hervortreten wollte, sei er dann gestorben. Den von Bach selbst bereits geordneten Materialien fügten die Herausgeber um Bachs Sohn das Choralvorspiel «Wenn wir in hoechsten Noethen seyn» hinzu und setzten die unvollendet hinterlassene Fuge, aus ihrer Sicht folgerichtig, vor diesem an den Schluss. Die unvollendete Fuge – genauer: eine Tripelfuge mit der Tonfolge B-A-C-H als krönender Pointe im dritten Thema – wurde dann im Vorwort zur zweiten Auflage und im Nekrolog ohne nähere Begründung sogar noch weiter aufgewertet: zum Phantom einer nicht mehr realisierten Quadrupelfuge (also mit vier Themen). Vielleicht, um das Fragmentarische des Werks zu unterstreichen.
Bachs eigener Plan
So weit die Legende. Sie hat sich unter der rezeptionslenkenden Fürsorge der Editoren etabliert und wird teilweise bis heute verbreitet. Allerdings hat die Bach-Forschung in den letzten Jahrzehnten etliches davon als Fehlinformationen entlarvt und grundlegend korrigiert. Zuallererst: Die «Kunst der Fuge» ist keineswegs Bachs letztes Werk. Sie wurde vielmehr schon um 1742 begonnen, also acht Jahre vor seinem Tod, und steht somit am Beginn, nicht am Ende von Bachs im Alter zunehmender Obsession mit Fugen-, Kanon- und Variationstechniken. Zudem war Bach an der Drucklegung von Anfang an beteiligt, nicht zuletzt durch die eigenhändige Anfertigung von Vorlagen für den Kupferstich.
Dem Ganzen liegt denn auch ein in mehreren Stufen entwickelter Plan zugrunde, der durch die postume Edition verdorben wurde. Bach sah eigentlich eine Logik der sich steigernden Komplexität vor: von einfachen Fugen (Contrapunctus 1–4) über Gegenfugen (5–7: Thema und Umkehrung), Doppel- und Tripelfugen (8–11) bis hin zur Gratwanderung der sogenannten Spiegelfugen, bei denen der komplette Tonsatz um eine horizontale Achse gedreht werden kann (12–13).
Danach folgen vier zunehmend komplizierte zweistimmige Kanons. Deren Höhepunkt ist der sogenannte Augmentationskanon, in dem das stark variierte Thema von seiner Umkehrung in verdoppelten Notenwerten verfolgt wird – das wahrscheinlich spektakulärste polyfone Abenteuer des gesamten Werks.
Dass Bach seinen Plan gegen Ende der 1740er Jahre zu erweitern begann, lässt sich aus gelöschten und überschriebenen Seitenzahlen einiger Druckplatten erschliessen. Dies haben die Nachlassverwalter nicht angemessen verstanden, jedenfalls kaum berücksichtigt. In Bachs veränderte Disposition, zu der schliesslich auch noch eine vierstimmige Alternativversion für die dreistimmige zweite Spiegelfuge gehörte, haben sie eigenmächtig eine weitere Fuge (nämlich eine ausgeschiedene frühere Ausarbeitungsstufe des Contrapunctus 10) eingefügt und ausserdem die unvollendete «B-A-C-H»-Tripelfuge vor den abschliessenden Orgelchoral gesetzt.
Diese Anordnung, in ihrer zweiten Hälfte zunehmend unlogisch, hat bei der Nachwelt für einige Verwirrung gesorgt. Und sie hat den Forscherfleiss mächtig angeregt. Heute liegen mehr als 80 Vorschläge zu einer verbesserten Anordnung vor und, vor allem, mehr als 30 Versuche zur Komplettierung der fragmentarischen Schlussfuge.
Sie orientieren sich an der durch den Nekrolog befeuerten Vermutung, bei dieser «Fuga a 3 soggetti» handele es sich in Wirklichkeit um eine geplante Quadrupelfuge, deren viertes Thema das triumphal eintretende Hauptthema des gesamten Werkzyklus sein sollte. Angesichts der Tatsache, dass diese Fuge bereits mit einer Variante des Hauptthemas eröffnet wird, erscheint dies indes wenig glaubhaft.
Wie auch immer: Der erhellendste Vorschlag zur Lösung des Rätsels liegt seit einem Jahr vor: in Meinolf Brüsers kleiner Monografie «Es ist alles Windhauch», die Bachs Werk-Idee erstmals in aller Konsequenz rekonstruiert. Ohne die geradezu kriminalistische Argumentation des Autors hier im Detail referieren zu können, scheint das Folgende klar zu sein: Wenn Bachs Manuskript des Fugenfragments (auf dem sein Sohn die raunende Notiz vom vorzeitigen Ableben des Verfassers notierte) in der Mitte der fünften Seite abbricht, so geschah das in voller Absicht.
Eine subtile Demutsgeste
Erstens nämlich ist der Rest der Seite infolge einer defekten Rastrierung der Notenlinien für eine Fortsetzung der Niederschrift unbrauchbar. Zweitens bricht der Torso nach der Einfügung des «B-A-C-H»-Themas hochbedeutsam im Takt 239 ab: Die Quersumme dieser Zahl ergibt die Zahl 14. Das aber ist nichts anderes als die zahlensymbolische Verschlüsselung des Autornamens (B=2, A=1 usw.). Und drittens sollte das Fragment – auch als Torso schon eine der längsten Instrumentalfugen Bachs – in den Gesamtplan hinter dem Contrapunctus 13 als vierzehnte Fuge vor die Gruppe der Kanons gesetzt werden.
Die Druckvorlage der Fuge, um 7 Takte gekürzt, stammt offensichtlich von Bach selbst. Und sie ist am Fuss der Seite, auf der sie abrupt endet, in einer der abbrechenden Stimmen just beim Ton «d» mit einem Verweiszeichen versehen worden. Dieses führt exakt auf denselben Ton, mit dem auf der gegenüberliegenden Seite des Manuskripts der Augmentationskanon beginnt. Er rückt aus pragmatischen Gründen also an den Beginn der Vierergruppe der Kanons, statt diese krönend abzuschliessen.
Sollte dies Bachs eigentlicher Plan gewesen sein, und vieles spricht dafür, so gehört die abbrechende Fuge nicht ans Ende, sie steht vielmehr im Zentrum des Werks. Und dort wird ihr Abbruch bewusst inszeniert. Weshalb? Brüser sieht darin eine subtile Demutsgeste des alten Bach, ein Zurücktreten des endlichen Schöpfersubjekts vor seinem Schöpfergott – exakt an jenem Punkt, an dem die eigene Kreativität auf den Gipfel ihrer kombinatorischen Möglichkeiten gelangt. Dieser Habitus ist aus der barocken Stillleben-Tradition mit ihren Künstlerselbstporträts zwischen verlöschenden Kerzen und Totenschädeln als Vanitas-Symbolen bestens bekannt. Ihre Inszenierung in einem musikalischen Werk ist freilich singulär.
Als Gegengewicht zu diesem Antihöhepunkt, der die eigene Endlichkeit thematisiert, dient Bach der Orgelchoral. Er beschliesst als Überlieferungsfragment die grosse Leipziger Choralhandschrift und trägt dort, viel passender, den Titel «Vor deinen Thron tret’ ich hiermit». Die Herausgeber haben ihn aber durch eine leicht abweichende frühere Version mit der Überschrift «Wenn wir in hoechsten Noethen seyn» ersetzt.
Die Faszination des Fragments
Die «Kunst der Fuge» wäre, wenn das alles stimmt, also keineswegs ein vom Schicksal zum Torso gemachtes Projekt, wie es die von den Nachlassverwaltern in die Welt gesetzte Legende will. Der Mythos der durch Bachs Tod verhinderten Vollendung erscheint vielmehr als ein postumes Konstrukt. In diesem zeigt sich das Weltbild einer neuen Generation, das auch noch uns Heutigen nähersteht und viel «moderner» anmutet als die tief in der barocken Frömmigkeit wurzelnde Demutsgeste von Bachs originaler Konzeption. Es deutet den (vermeintlichen) Torso-Charakter der «Kunst der Fuge» als visionären Vorgriff auf die Faszination für Fragmente, die in der Epoche der Empfindsamkeit aufkam und in der Frühromantik um sich griff.
Bei aller Ehrfurcht und Bewunderung, die dem Werk von der Nachwelt gezollt wurde, geriet die Frage nach seiner Aufführbarkeit aus dem Fokus. Besonders für die Schönberg-Schule wurde es zum Inbegriff reiner Vergeistigung. Anton Webern nannte die «Kunst der Fuge» ein «Werk, das völlig ins Abstrakte führt». Und Theodor W. Adorno zählte sie zu «den spekulativen Werken der Spätzeit», sah gar in ihrer entmaterialisierten Hermetik bewusst «den Klang ausgespart».
Der junge Schweizer Wolfgang Graeser versuchte dagegen schon 1927 die Aufführbarkeit mit einer Orchesterfassung zu demonstrieren – mit zunächst aber nur mässigem Erfolg. Erst in den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche Musiker die Scheu überwunden und den Reichtum des Werks in diversen Fassungen und Besetzungen zum Klingen gebracht. Und sollten sich, was zu hoffen ist, bald erste Solisten und Ensembles gar noch getrauen, die «Kunst der Fuge» in der neu vorgeschlagenen Anordnung darzubieten, dann wird das postum erschienene Werk wohl endlich auch den Nimbus los, eine Art Gruss aus dem Jenseits zu sein.
Ihren Rätselcharakter wird die grosse Sphinx der Musikgeschichte dennoch nicht verlieren. Denn wie alle grosse Kunst ist sie – nach Schellings schönem Diktum – «einer unendlichen Auslegung fähig». Das Bemühen, sie zu verstehen, wird an kein Ende kommen.
Hans-Joachim Hinrichsen war von 1999 bis 2018 Ordinarius für Musikwissenschaft an der Universität Zürich. Zwischen 2001 und 2012 war er unter anderem Präsident der Internationalen Bach-Gesellschaft Schaffhausen (IBG).