Die Not der Ukraine und Europas eigene Schwächen setzen die EU-Staaten unter Druck. Wie soll man einen Sieg Russlands verhindern und die eigene Verteidigungsbereitschaft erhöhen? Darüber gibt es unter den 27 Ländern einige Differenzen.
EU-Rats-Präsident Charles Michel sparte nicht an dramatischen Worten, als er die 27 Staats- und Regierungschefs zum Gipfel nach Brüssel einlud. Europa, schrieb er, stehe vor einem entscheidenden Moment, vor der grössten Bedrohung seit dem Zweiten Weltkrieg. Es sei höchste Zeit für radikale Schritte, um verteidigungsbereit zu werden und zu einer Kriegswirtschaft überzugehen.
Kein Zurück zum Status quo ante
Das Schreiben des Belgiers sollte die EU-Spitzen auf ein Treffen einstimmen, das einen «echten Paradigmenwechsel in Bezug auf unsere Sicherheit und Verteidigung» einleiten würde. Michel bezog sich darauf, dass viele Staaten noch immer nicht begriffen hätten, dass ein Zurück zum Zustand vor dem 24. Februar 2022 nicht möglich sei. Es gebe «ein wachsendes Gefühl, dass Russland nicht bei der Ukraine aufhören wird», hatte im Vorfeld des Gipfels auch der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell erklärt.
Neue Militärhilfen für die Ukraine und Initiativen zur Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie standen am Donnerstag ganz oben auf der Agenda. Man wolle ein sehr klares Signal an Wladimir Putin senden, sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner Ankunft in Brüssel. Putin habe sich verrechnet, wenn er glaube, dass die EU die Ukraine nicht so lange unterstützen könne, wie das notwendig sei.
Dabei gibt es in der Frage, wie die zusätzlichen Rüstungsgüter für Kiew beschafft werden sollen und wo das Geld für sie herkommen soll, erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Die Kommission hatte am Mittwoch einen Plan vorgestellt, wie man mit den Sondergewinnen aus eingefrorenen russischen Vermögen Waffenkäufe für die Ukraine finanzieren könnte.
Es handelt sich dabei nach Schätzungen aus Brüssel um rund drei Milliarden Euro pro Jahr, die laut EU-Juristen problemlos von den russischen Zentralbankreserven abgeschöpft werden könnten, weil sie Russland auch gar nicht gehörten. Doch einige Mitgliedstaaten blieben angesichts des möglichen Vertrauensverlusts von Anlegern skeptisch. Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer sagte, er hätte sich erhofft, dass das Geld nur in den Wiederaufbau der Ukraine und nicht in Waffen investiert würde.
Diese Position nehmen auch die anderen neutralen EU-Staaten Irland, Malta und Zypern ein. Ungarn bezeichnete die Nutzung russischen Vermögens für Militärhilfe als grundsätzlich «rote Linie». Viel weiter wollen dagegen einige ostmitteleuropäische Länder gehen, die am liebsten das gesamte russische Vermögen konfiszieren würden. Diese Position unterstützt auch die amerikanische Regierung und nicht zuletzt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski, der sich per Videokonferenz in das Treffen einschaltete und die EU ermahnte, schnelle Entscheidungen zu treffen. Europa, sagte er, bleibe bei der Lieferung von Waffen hinter seinen Möglichkeiten.
Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas wagte sich mit der Idee hervor, dass jedes Mitgliedsland mindestens 0,25 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für ukrainische Militärhilfen zur Verfügung stellen sollte. Der Vorschlag gilt jedoch als chancenlos. Nach Erhebungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft müssten Länder wie Frankreich, Italien und Spanien, die derzeit nur eine Quote von durchschnittlich 0,07 Prozent aufweisen, ihre Ausgaben extrem steigern. Deutschland lag dagegen jüngst bei rund 0,6 Prozent.
Keine Mehrheit für Verteidigungs-Bonds
Aus Frankreich gibt es den Vorstoss, über sogenannte Eurobonds gemeinsam Schulden aufzunehmen, um Rüstungsinvestionen zu finanzieren, die dann auch der Ukraine zugutekämen. Diesen Weg ging man in Brüssel auch während der Pandemie, obwohl es dagegen anfänglich starken Widerstand der «sparsamen» EU-Staaten gegeben hatte. Diese Länder, zu denen die Niederlande, Dänemark und Finnland zählen, lehnen die Verteidigungs-Bonds heute kategorisch ab.
Auch Deutschland besteht darauf, dass das Experiment mit den gemeinsamen Schulden beim Corona-Aufbaufonds eine einmalige Ausnahme bleiben soll. Aus Paris hiess es dagegen, dass man «innovative Finanzierungsquellen» nicht von vornherein ausschliessen solle.
Der Streit um die Eurobonds ist nicht das einzige Thema, bei dem Deutschland und Frankreich über Kreuz liegen. Ende Februar hatte der französische Präsident Emmanuel Macron einen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht grundsätzlich ausschliessen wollen. Dem widersprach Scholz mehrfach, woraufhin Macron bei einem Besuch in Prag erklärte, dass es nicht die Zeit für «Feigheit» in Europa sei.
Bei einem Treffen mit dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk hatten Macron und Scholz dann wieder Einigkeit demonstriert und den Streitpunkt Bodentruppen ausgeklammert. Doch kündigt sich bei den Eurobonds nun der nächste Zwist an.
Ein Konsens unter den Mitgliedstaaten scheint sich immerhin bei der Frage abzuzeichnen, ob man der Europäischen Investitionsbank (EIB) künftig auch Investitionen in Rüstungsgüter ermöglichen soll. Bis jetzt sind Finanzierungen der EIB im Verteidigungsbereich auf Projekte mit doppeltem Verwendungszweck, sogenannte Dual-use-Güter, beschränkt. Mehrere Länder setzen sich dafür ein, dass dies geändert wird.