Gegenwärtig hat die Armee keine funktionierende Kriegslogistik. Warum nicht? Rolf Siegenthaler, Chef der Logistikbasis der Armee, antwortet im Interview.
Die Schweizer Armee will wieder verteidigungsfähig werden. Im Ernstfall hätte die Logistik eine zentrale Rolle, um den Nachschub der Soldaten zu gewährleisten. Doch es fehlt an Material und modernen Kampfsystemen. Die Logistikbasis der Armee ist verantwortlich für das Material und die Instandhaltung. Im Interview erklärt der Chef Rolf Siegenthaler, warum seine Mitarbeitenden vor allem Oldtimer-Pflege betreiben müssen und warum er den Eindruck hat, dass sich die öffentlichen Diskussionen nicht immer um die tatsächlichen Herausforderungen drehen.
Herr Siegenthaler, auf einer Skala von 1 bis 10: Wie bereit ist die Logistik der Armee heute für den Kriegsfall?
Etwa auf Stufe 3.
Das ist eine beunruhigend tiefe Zahl.
Ich behaupte auch nicht, dass mich das beruhigt.
Stellen wir uns vor, die Schweiz wird angegriffen, die Armee muss mobilgemacht werden. Soldaten, Waffen, Essen müssen bereit sein für einen Einsatz. Wie würden Sie das heute machen?
Für die Milizverbände mit hoher Bereitschaft liegt das Material so bereit, dass sie es direkt fassen können. Ohne Computer. Und für die anderen Verbände liegt es in Hochregallagern und wäre im Rhythmus von zwei Bataillonen pro Armeelogistikcenter alle 24 Stunden verfügbar.
Sind Sie zuversichtlich, dass die Schweizer Armee in der Lage wäre, sich im Krisenfall bereit zu machen?
Dass das funktioniert, haben wir während Corona bewiesen. Und wir stellen jedes Jahr für die Wiederholungskurse die Fahrzeuge und das Material für die Bataillone und Schulen bereit – wobei wir natürlich für die Ausbildung und subsidiäre Einsätze mobilgemacht haben und nie die ganze Armee auf einmal. In verschiedenen Übungen haben wir aber schon versucht, die Logistikzentren zu testen und kapazitätsmässig an den Anschlag zu bringen. Bislang war das jedoch noch nie der Fall.
Vielleicht, weil nur gerade ein Drittel aller Soldaten voll ausgerüstet werden könnte. Es gibt heute nicht einmal genügend Schutzwesten für alle.
Dank tieferen Preisen konnten Schutzplatten eingekauft werden. Damit können künftig 100 000 Armeeangehörige mit einem ballistischen Körperschutz ausgerüstet werden. Bis Ende 2025 soll das Material geliefert werden. Für die Durchhaltefähigkeit in einem Krieg brauchten wir aber tatsächlich wesentlich mehr Material. Die Menge ist jedoch unterschiedlich, je nach Art des Materials. Mit Kampfanzügen können wir deutlich mehr als den erwähnten Drittel ausrüsten, Kampffahrzeuge haben wir hingegen für einen bis zwei Drittel der Kampftruppen. Bei der Artillerie können wir etwa einen Viertel der Abteilungen vollständig ausrüsten. Bei der Munition, die heute schon unterirdisch gelagert wird, haben wir Vorräte für die Ausbildung, aber keine Kriegsbevorratung.
Warum nicht?
Die Kriegslogistik wurde mit der Armee XXI aufgehoben und die Logistik komplett auf eine rein betriebswirtschaftliche Logistik umgestellt. Das heisst, man hat zentralisiert. Die fünf Logistikzentren der Armee erbringen die Basis-Logistikleistung. Konkret bedeutet das: Wenn ein Fahrzeug kaputt ist, wird es nicht von der Truppe draussen repariert, sondern kommt zurück in ein Armeelogistikzentrum. Dort befindet sich auch die Truppenwerkstatt.
Vor der Armee XXI war das anders?
Ja, jedes Bataillon hatte seine eigene Werkstatt, die vollumfänglich ausgerüstet war und komplett autonom funktionierte. In den Armeelogistikzentren wird im Sinne der Effizienz und unter optimalen Verhältnissen gearbeitet. Aber die Zentren befinden sich an bekannten Standorten, die auf Google Earth zu finden sind. Das heisst, sobald Abstandswaffen gegen uns eingesetzt würden, wären wir hoch gefährdet.
Das heisst, die Armeelogistik müsste dezentralisiert werden?
Genau. Wir sind daran, ein Konzept zu erarbeiten. Es gäbe genügend Lagerfläche in unterirdischen Anlagen. Wir könnten in einer gewissen Anzahl von Tagen – die ich hier aus taktischen Gründen nicht bekanntgebe – dezentralisieren, dies mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln. Wir wären hier auf die Leistung der Logistik-Bataillone angewiesen. Es bedeutet einen gewissen Aufwand, ist jedoch machbar. Aber: Wir reden hier vom Material, das wir heute haben.
Dennoch titelte SRF Ende Oktober: «Schweizer Armee ohne krisensichere Logistik bis 2035», und stützte sich dabei auf Aussagen von Divisionär Alexander Kohli, dem ehemaligen Chef Armeestab, in einer Kommission.
Ich bin nicht in der Kommission gewesen. Ich weiss also nicht im Detail, was der Hintergrund dieser Aussage war. Das Folgeprojekt zur Weiterentwicklung eines Systems für die einsatzkritischen Logistikprozesse soll im Rahmen eines neuen Projekts ab 2025 erfolgen.
Dies hätte ursprünglich mit der Prozess-Software SAP realisiert werden sollen. SAP kommt aber nicht mehr infrage. Eine Studie soll klären, welche Software geeignet wäre.
Es hat sich herausgestellt, dass SAP generell und auch das Disconnected-Operations-Modul von SAP die spezifischen Anforderungen nicht erfüllen können, die wir brauchen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass im Ernstfall ein derart komplexes System für den Bereich der Einsatzlogistik eingesetzt werden soll.
Warum nicht?
SAP ist kostenintensiv, weil es ein umfassendes Ressourcen-Planungssystem für Unternehmen ist und für die betriebswirtschaftliche Führung sehr viele Vorteile bietet. Diese brauchen wir für die Transparenz, etwa um Rechenschaft ablegen zu können im Parlament. SAP bildet den durchgängigen Mengen-Wertefluss ab. Es kann beispielsweise Leistungen kalkulieren und miteinander verknüpfen: den Mitarbeiter mit seinen Arbeitsstunden, mit der Arbeit, die er macht, mit dem System, auf dem er arbeitet, mit den Ersatzteilen, die er braucht. In einem Kriegsfall brauchen wir diese Funktionen in diesem Ausmass nicht. Wir müssen einfach wissen, wo und in welchem Zustand das Material ist und ob Nachschub erforderlich ist. Dafür ist ein Lagerverwaltungssystem für die Truppe nötig, inklusive Bestellsystem. Die Anforderungen an ein Kriegslogistiksystem sind also wesentlich tiefer, womit es keinen Sinn machen würde, SAP für viel Geld militärisch sicher zu machen, also «zu härten».
Sie sagen, es brauche dafür die SAP-Software nicht. Dennoch nutzen weltweit 57 Streitkräfte SAP-Lösungen, darunter 22 Nato-Staaten. Dass die Schweizer Armee nicht auf eine solche Standardlösung setzt, verstehen Politiker von links bis rechts nicht.
Wir nutzen SAP ja, aber für die zivile Logistik. Die meisten Armeen haben ihre Daten auch nicht auf der SAP-Cloud, weil ihnen diese zu wenig robust ist.
Für den Kriegs- oder Konfliktfall wäre dieser Standard zu wenig geschützt, etwa gegen Cyberangriffe?
Ziviler Standard ist nicht per se unsicher. Banken arbeiten mit zivilen Systemen, in hoher Vernetzung mit ihren Kunden. Solche Systeme bieten aufgrund der vielen Schnittstellen jedoch mehr Angriffsfläche. Viele Nato-Länder haben neben SAP zusätzliche Tools. Es sind Tools, die vor allem für Auslandseinsätze konzipiert wurden, etwa für Einsätze der deutschen Bundeswehr in Afghanistan.
Fakt ist: Es ist unklar, wie lange es geht, bis eine krisensichere Logistiksoftware umgesetzt werden kann und wie viel sie kosten wird.
Für die einsatzkritischen Logistikprozesse soll dieses Jahr ein neues Projekt starten. Die Kosten können derzeit nicht abschliessend beziffert werden. Mein Ziel ist aber primär, kein grosses IT-Projekt loszutreten. Ich mache mir dabei weniger Sorgen darüber, dass wir es nicht schaffen, als darüber, dass wir keine Zeit mehr haben. Bei meinem regelmässigen Austausch mit Kollegen aus Deutschland und Österreich höre ich immer wieder Befürchtungen, dass Russland den Krieg ausweiten könnte. Das Logistiksystem scheint dabei das kleinste Problem zu sein, das wir haben.
Was ist das grösste Problem?
Das fehlende Material, Munition, Ersatzteile und die veralteten Systeme. Das sind zentrale Bereiche zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit – daran arbeiten wir in der Logistikbasis der Armee täglich. Aus dem öffentlichen Diskurs heraus habe ich aber manchmal den Eindruck gewonnen, dass es nicht immer nur um die Sache geht.
Sondern?
Ich finde kritische Voten grundsätzlich wichtig. Schliesslich können wir uns dadurch auch verbessern. Gelegentlich entsteht aber der Eindruck, dass eine Nebensache zum grossen Problem aufgebauscht wird. Es kommt mir ein bisschen vor wie das Verschiessen von Nebelpetarden. Es trübt für eine gewisse Zeit die Sicht und lenkt von den eigentlichen Herausforderungen ab. Vielleicht, weil wir den Preis für Sicherheit noch nicht klar genug erkannt haben.
SAP ist nicht der einzige Kritikpunkt. In den letzten Monaten gelangten diverse Probleme an die Öffentlichkeit. Was läuft falsch im Verteidigungsdepartement?
Diese Frage ärgert mich ehrlich gesagt etwas. Wir haben in den letzten Jahrzehnten weniger Mittel bekommen, und meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen alles daran, täglich das Beste daraus zu machen. Wir haben die ganze Ausbildung aufrechterhalten. Im Vordergrund standen Schützen und Helfen im Rahmen von Katastrophen, das Kämpfen war im Sinne des Kompetenzerhalts auf das Heer reduziert. Wir haben unsere Aufträge erfüllt und auch immer darauf hingewiesen, welche Systeme nicht mehr tauglich sind. Schon 2013 haben wir das kommuniziert, das hat offenbar wenige interessiert. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, an dem wir vieles gleichzeitig ersetzen müssten. Wir reden von Systemen, die über sechzig Jahre alt sind.
Eines dieser Systeme mussten Sie Ende 2023 aus dem Verkehr ziehen: die Flotte der Schützenpanzer M113. Fahren diese wieder?
Die Hälfte läuft wieder. Wir mussten nach dem Bruch einer Antriebswelle ein Fahrverbot aussprechen. Bei der Kontrolle der vorhandenen Ersatzwellen mussten wir feststellen, dass achtzig Prozent der Antriebswellen ebenfalls angerissen waren. Deshalb mussten neue Ersatzteile beim Originalhersteller eingekauft werden. Und obschon die Fahrzeuge über sechzig Jahre alt sind, sind sie heute auch im Ausland teilweise noch im Einsatz. Entsprechend hatten wir auch längere Lieferzeiten. Aber wir gehen davon aus, dass bis Ende Jahr alle Fahrzeuge umgerüstet werden können. Die Ausbildung in der Rekrutenschule war stets sichergestellt.
Die Fahrzeuge sind sehr alt. Sind sie überhaupt tauglich für künftige Konflikte?
Es kommt darauf an, in welcher Rolle. Ich würde sie auf jeden Fall nicht mehr in einer tragenden Kampfrolle einsetzen, aber als Hilfsfahrzeuge kann man sie nutzen. Wenn man sagt, die Fähigkeit der Armee sinke aufgrund des Ausfalls der M113, dann muss ich entgegnen: Diese Fähigkeit haben wir auch mit diesen Panzern nicht mehr. Zum Kampf tragen sie direkt kaum etwas bei, auch wenn sie funktionsfähig sind. Sie haben eine sehr beschränkte Schutzwirkung, schon eine Gewehrkugel schlägt durch. Und sie sind relativ langsam im Vergleich zu modernen Kampfmitteln. Der Vorteil ist: Sie sind so alt, dass sie technisch einfach gebaut sind. Aber es sind wirklich Oldtimer, entsprechend aufwendig im Unterhalt.
Praktisch alle Systeme in der Schweizer Armee sind alt.
Das ist eben ein Hauptproblem. Die Rüstungsinvestitionen der letzten 35 Jahre sind im Wesentlichen in den erweiterten Unterhalt der Systeme geflossen.
Wie viel Geld wäre für eine glaubwürdige Verteidigung nötig?
Die Zahlen stehen im «Schwarzen Buch», dem Zielbild und der Strategie für die Armee der Zukunft. In einem ersten Schritt braucht es für Rüstungsmaterialbeschaffungen 13 Milliarden Franken, plus 1 Milliarde für die Bevorratung, vor allem für die Munition.
Und für eine vollständige Nachrüstung?
Um die Armee vollständig auszurüsten und alle Systeme, die in den kommenden Jahren ans Ende der Nutzungsdauer kommen, ersetzen zu können, sind rund 40 Milliarden Franken erforderlich. Hinzu kommen etwa 10 Milliarden Franken an Bevorratung. Jetzt ist nur die Frage, wie schnell man das umsetzen kann.
Vereinzelt wurden aber neue Systeme bewilligt.
Ja, die ersten wirklich neuen Systeme sind die F-35-Kampfjets und das bodengestützte Flugabwehrraketensystem Patriot. Diese Systeme werden der Armee auch einen Fähigkeitszuwachs bringen. Hier kommt aber noch eine weitere Herausforderung.
Welche?
Für diese Systeme brauchen wir Munition. Das heisst, mit dem Kauf der Systeme schliessen wir auch Kaufverträge ab für die Munition. Und diese Verträge sind langfristig ausgerichtet und binden damit Mittel. Wir haben für dieses Jahr zusätzliche 530 Millionen erhalten. Dafür danke ich dem Parlament, das ist gut. Aber wenn das Geld bei der nächsten Budgetdebatte ausbleibt, fehlt uns letztlich die langfristige Planungssicherheit.
Das Parlament spricht jedes Jahr das Budget. Gehen Sie davon aus, dass das Parlament der Armee wegen der vielen Pannenberichte die Mittel kürzen könnte?
Ich meine damit, dass wir die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit im sich verändernden Umfeld mehr ins Zentrum stellen müssen. Gemäss der Verfassung soll sich die Schweiz verteidigen können. Das bedingt nun mal finanzielle Mittel. Eine schlecht ausgerüstete Armee ist aus meiner Sicht letztlich auch unwirtschaftlich. Sie erweckt den Anschein, tauglich zu sein, erzielt jedoch kaum eine abschreckende Wirkung auf einen potenziellen Gegner. Und an dem Tag, an dem sie antreten muss, kann sie den Auftrag nicht erfüllen. Sicherheit hat einen Wert, aber eben auch ihren Preis.