Vielleicht liegt es am Ewigkeitsanspruch, dass man in der italienischen Hauptstadt bisweilen nicht recht weiss, wie spät es gerade ist. Erkundungen über die Zeit am Tiber.
Ist es 7 Uhr 50? Oder schon 9 Uhr 15? Oder vielleicht erst 7 Uhr 39, wie die Digitaluhr über dem Eingang der Apotheke suggeriert? Man weiss es nicht. Wer kein schweizerisches Qualitäts-Uhrwerk oder eine Smartwatch am Handgelenk trägt und das Handy im Rucksack verstaut hat, ist in Rom verloren.
Im Geviert um den Largo di Torre Argentina und den Corso Vittorio Emanuele im Stadtzentrum gibt es mindestens ein Dutzend öffentliche Uhren, die auf gusseisernen Säulen angebracht sind, die wiederum als Träger von Werbeflächen dienen. Pizzerien machen darauf auf ihr Angebot aufmerksam, Detailhändler werben für ihre Produkte.
Die Uhren oberhalb der Werbetafeln haben eine klassische Anmutung und sehen eigentlich so aus, als würden sie zuverlässig funktionieren. Tun sie aber nicht. Die Zeiger der meisten Uhren bewegen sich zwar, aber sehr eigenwillig. Manche stehen still, haben den Geist aufgegeben, ermattet von der städtischen Betriebsamkeit, die hier herrscht.
«Tempus fugit», sagt der Lateiner, die Zeit flieht. Wikipedia meint, der Ausdruck stamme aus Zeile 284 von Buch 3 der «Georgica» von Vergil. Stünde der grosse römische Dichter heute am Corso Vittorio Emanuele, würde er es vielleicht anders formulieren. Hier schlägt die Zeit nämlich einen Zickzackkurs – wie ein Feldhase, der versucht, einen Feind zu verwirren. Einmal 7 Uhr 50, dann 9 Uhr 15, schliesslich 7 Uhr 39. Ja, was nun?
Dabei wären hier, gerade hier, an diesem städtischen Knotenpunkt, besonders viele Leute auf präzise Angaben und Verlässlichkeit angewiesen: Schüler, die ins nahe Liceo Classico Visconti eilen (vielleicht, um sich dort in Vergils Weisheiten zu vertiefen), Avvocati, die wichtige Termine haben, Pendler, die den nächsten Bus erwischen müssen.
Fühlt sich denn niemand für diese Uhren zuständig?
In der Stadtverwaltung weist man darauf hin, dass die Stadt Rom lediglich Konzessionsgeberin für die Werbesäulen sei. Damit sei sie in keiner Weise verpflichtet, für das Funktionieren der Uhrwerke zu sorgen. Die Stadt selbst besitze siebzig öffentliche Uhren. Und diese seien in tadellosem Zustand. Zwei kommunale Uhrmacher seien eigens für deren Betrieb verantwortlich.
In der Tat: Es gibt Pünktlichkeit und Präzision in Rom. Auf dem Pincio, einem Hügel am Rand des Borghese-Parks, befindet sich eine wunderbare Wasseruhr. Sie funktioniert angeblich seit 1873 ununterbrochen und ist ein Anziehungspunkt für Touristen und Flaneure. Auch der Kanonenschuss, der täglich um genau 12 Uhr vom Gianicolo-Hügel auf der anderen Seite der Stadt abgefeuert wird, erfolgt mit höchster Zuverlässigkeit.
Und in der Basilika Santa Maria degli Angeli e Martiri oben beim Hauptbahnhof gibt es einen in den Fussboden eingebauten Meridian aus dem frühen 18. Jahrhundert, der als Bezugspunkt für astronomische Berechnungen diente und es vatikanischen Terminwächtern ermöglichte, die Tagundnachtgleiche im Frühjahr abzulesen und so das Datum des Osterfestes zu bestimmen.
Fachwissen also wäre vorhanden. Allein, im Alltag gibt man nicht viel darauf, so scheint es. Ausser dem zugewanderten Schweizer mag sich am Corso Vittorio Emanuele niemand über das Zeitchaos ereifern. So sei es nun halt einmal, sagt der Kioskmann achselzuckend.
Man kann ihn verstehen. Schliesslich lebt man ja in der Ewigen Stadt und bewegt sich zwischen Bauwerken, die zweitausendjährig und älter sind. Da kommt es auf ein paar Minuten auch nicht an.
Aber die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen – «Tempora mutantur, nos et mutamur in illis»: Auch so ein römischer Spruch. So gelassen sind denn die heutigen Italiener auch nicht immer, wenn es um Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit geht. Wenn die «Frecciarossa», Italiens Vorzeige-Hochgeschwindigkeitszug, nicht pünktlich verkehrt, gibt es wütende Zeitungsartikel und – wie unlängst – Debatten im Parlament mit heftigen Attacken gegen den Verkehrsminister Matteo Salvini.
Dieser erklärt sich dann mit fadenscheinigen Begründungen. Saboteure hätten die Fahrleitungen attackiert, sagt er zum Beispiel. Oder: Arbeiter hätten einen Nagel an der falschen Stelle in eine elektrische Leitung eingeschlagen; die Vorgängerregierungen hätten geschlampt; die Sache sei komplex.
Überhaupt, die Politik. Sie hat ihre eigenen Zeiten. Als Mario Draghi vor vier Jahren in den Palazzo Chigi einzog, den Sitz des Regierungschefs, hiess es, eine seiner ersten Anordnungen habe gelautet, alle Uhren in dem Gebäude richtig einzustellen. Klar: Als sogenannter Technokrat war er nur kurz im Amt, die Fristen waren eng, der Takt war hoch, da kam es auf Pünktlichkeit an.
Wie die Uhren unter Giorgia Meloni ticken, weiss man nicht so genau. Aber die jetzige Regierungschefin hat auf jeden Fall vor, länger im Palazzo Chigi zu residieren als ihre Vorgänger. Sie denkt in Legislaturperioden.
Für die Wartung der Uhren am Corso Vittorio Emanuele fühlt sie sich offenbar auch nicht zuständig. Wer keine eigene Uhr am Handgelenk trägt oder nicht das Handy zückt, ist hier aufgeschmissen.