Unsere Autorin isst seit sechs Wochen keinen Zucker mehr. Wie es ihr dabei ergeht.
Es sind vier Kuchen, die vor mir auf dem Tisch stehen, als ich beschliesse, dass es reicht. Baumkuchen mit dunkler Schokolade und Smarties – mein Werk. Sandkuchen von meiner Mutter. Ein Marmorkuchen der Patentante, wo der vierte herkam, habe ich vergessen.
Zucker ist Liebe, diese Prämisse ist tief in unserer Gesellschaft verankert: Wir feiern mit Kuchen, wir schenken Pralinen, wir belohnen uns mit Schokolade. Süssigkeiten sind überall greifbar, bei einer der vielen Bäckereien oder in den überquellenden Regalreihen kurz vor der Kasse im Supermarkt.
Bei einem Stück blieb es nie
«Spaghetti no regretti» war bisher mein Motto, wenn es um Pasta, Kuchen und Nachtische ging, Schokolade habe ich tafelweise gegessen, Gleiches gilt für Trash aus dem Supermarkt. Wenn ich eine dringende Abgabe hatte, brachten Kollegen mir ungefragt Yogurette und Mikado mit, ja ich ass sogar heimlich die krümeligen Fake-Himbeeren aus den Papiertüten, die meine Kinder von ihren Geburtstagspartys heimschleppten. Der einzige Grund, warum dieses Verhalten gesundheitlich nicht total eskalierte, ist sicher die Tatsache, dass ich so zentral wohne, dass ich fast jeden Weg zu Fuss erledigen kann.
Süsses ist so selbstverständlich in unserem Leben verankert, dass wir gar nicht mehr hinterfragen, was das Zeug dort anrichtet. Und dann haben wir noch gar nicht über den zugesetzten Zucker geredet, der sich ganz still und ungestört in Müesli, Ketchup, Joghurts und Fertigessen ausbreiten durfte. Mir ist das alles klar, bin ich doch ein aufgeklärter, normalgewichtiger Mensch, der sich viel bewegt und jeden Tag für die Familie kocht. Mein Lebensstil ist die perfekte Grundlage für eine lebenslange Selbsttäuschung: dass ich kein Zuckerproblem habe.
Noch nie zuvor war mir im Leben ein Zuckerverzicht gelungen. Die Süssigkeiten im Supermarkt schienen mit viel Verve gegen meine Willenskraft zu ringen, und auf meiner Schulter sass ein Papagei namens Food Noise und sagte: «Ach komm, ein kleines Stück Schokolade, das geht doch schon. Du hast doch heute schon Sport getrieben.» Nur – bei dem kleinen Stück blieb es nie. Crunch, knusper, weg. Phantastisch geschmeckt hat es schon, das Gefühl hinterher – na ja. Eigentlich sogar ziemlich desolat.
Immerhin bin ich mit diesem Thema nicht allein. Jeder Schweizer konsumiert im Durchschnitt 41 Kilogramm Zucker im Jahr – das sind 112 Gramm am Tag, mehr als das Vierfache der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Menge von 25 Gramm am Tag.
«Die bittere Wahrheit über Zucker»
Nach der Sache mit den vier Kuchen beschloss ich, das Ganze wie einen echten Entzug anzugehen. Ich sah Horrorvorträge von Robert Lustig, Professor für Endokrinologie und Kinderheilkunde, auf Youtube an. Seine Bücher tragen vielversprechende Titel wie «Die bittere Wahrheit über Zucker» oder «Pur, weiss, tödlich». Das Internet hat ein ganz eigenes Vokabular für mein Problem: «Cravings». Und auch die Lösung: Ein Sugar-Detox muss her, eine No-Sugar-Challenge, damit man hinterher «sugar-free» in den Sonnenuntergang reiten kann.
Cravings sind üblicherweise Entzugserscheinungen, aber für mich war es die Hoffnung, dass eine Tafel Ritter-Sport Schoko-Nuss sich wie eine Art Miniferien anfühlen könnte. Es geht viel um «energy», und schon war ich mittendrin zwischen Studien über Insulinresistenz, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes sowie Wellness-Geschwafel von strahlender Haut, definierten Bodys und geistiger Reinheit, die ein zuckerfreies Leben verspreche.
Ich lud eine App herunter, die meine Fortschritte trackt und über einen Panikbutton verfügt, der mir im Falle von Zucker-Cravings Tipps geben soll. Ausserdem schnippele ich mir von nun an eine Tupperdose voller Karotten und Fenchel zusammen und nehme einen Schwung griechischen Joghurt mit zur Arbeit.
Die Regeln wollte ich so einfach wie möglich halten:
- Keine Süssigkeiten, keine Schokolade, keine Trockenfrüchte, Süssgetränke, Säfte, Junk- und Fertigfood, auch keine selbstgemachten Nachtische. Dass Honig, Dattelpaste, Agavendicksaft und Sirup auch Zucker sind, ist ja selbstredend.
- Möglichst wenig Produkte, die hauptsächlich aus Stärke und Weizenmehl bestehen, hier ist das Selbsttäuschungspotenzial immens.
- Etwas Rotwein ist okay.
- Nudeln, Kartoffeln, Haferflocken und Brot werden nicht diskutiert.
- Frische Früchte sind okay, auch Bananen.
- Schokolade mit 90-prozentigem Kakaogehalt ist okay, im Grunde aber sowieso ungeniessbar.
- Dauer: Mal sehen.
- Ziel: Es erst einmal schaffen.
Und dann – geht es los.
Woche 1: Der erste Schock
Die ersten Tage sind . . . ermüdend. Ich schaue in den grauen Januar, schleppe mich zur Arbeit, schleppe mich wieder zurück. Texte zu schreiben, scheint ein grösserer Kraftakt als sonst, Sport auch. Und dennoch: Ich halte durch. Aus irgendeinem Grund hat ein Shift in meinem Kopf stattgefunden: Egal, welchen Lärm das Food Noise in meinem Kopf produziert, es übersetzt sich nicht in einen Griff ins Schokoladenregal. Ich gehe früher nach Hause, weil ich ohnehin kaum etwas Zusammenhängendes zustande bringe, koche mit letzter Kraft für die Kinder, falle erschöpft ins Bett. Das geht so einige Tage, dann werde ich richtiggehend krank: Schüttelfrost, noch mehr Müdigkeit, Kopfweh. Schnupfen. Ob der Zuckerverzicht allein daran schuld ist, lässt sich nicht beweisen.
Aber dann werde ich traurig. Richtig traurig. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überrollt mich, die Paranoia der Einsamkeit. Darauf war ich nicht vorbereitet. Auf die Cravings, die Sehnsucht nach dem Glücksgefühl beim Essen, das schon. Aber auf diese völlig persönlichkeitsverstümmelnde, realitätsverzerrende Trauer – das hatte mir keiner gesagt. Ich sage ein Dinner mit meinen Freunden ab, ich kann einfach keine Gäste empfangen. Die Freunde bleiben also zu Hause, und ich starre an die Decke. Ich streite mich, völlig untypisch, so heftig mit einer Freundin, dass wir mehrere Tage brauchen, um uns zu versöhnen. «Was ist in dich gefahren?», fragt sie, als wir uns aussprechen. «Ich weiss es nicht», antworte ich, und dann bekomme ich eine Minipanikattacke.
Dies seien typische Symptome für einen Zuckerentzug, sagt Timur Liwinski. Er ist Mediziner und Psychiater an der Universität Basel und forscht dort über die Wirkung von Zucker auf das Gehirn. «Je länger ich an diesem Thema arbeite, desto überraschender finde ich, dass Zucker überhaupt noch den Status eines Lebensmittels hat», sagt er. «Ich möchte ihn nicht dämonisieren, aber er ist eher ein Genuss- als ein Lebensmittel.»
Zucker macht dick, Zucker verursacht Diabetes – die Wirkung von Zucker auf die meisten Organe ist schon lange in der Medizin und auch in der breiten Bevölkerung bekannt. Aber dass Zucker auch traurig machen kann, das setzt sich erst langsam durch. «Es muss gar nicht erst zu schweren Krankheiten kommen, damit Zuckerkonsum psychische Folgen hat», weiss Liwinski. Das Gehirn habe ebenfalls Insulinrezeptoren. Wenn man nun sehr viele sehr süsse Sachen isst, kommt es als Reaktion im Körper zu Blutzucker- und Insulinspitzen, es folgt die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin, Cortisol und Glucagon, die das psychische Befinden und die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen können.
Dieses Stresshormongewitter im Gehirn hat Folgen. Man schläft schlechter, kann sich schlechter konzentrieren, wird gereizter. «Die globale Hirnfunktion wird schlechter, insgesamt nimmt die Resilienz ab», sagt Liwinksi, der selber ebenfalls keinen Zucker isst und einer Low-Carb-Ernährung folgt, «es sind keine offensichtlichen Dinge, sondern subtile Kleinigkeiten».
Woche 2: Es wird langsam besser
Gute Nachrichten: Das Food Noise lässt nach. Es ist geradezu lächerlich. Obwohl ich vor einer Woche noch an keinem Schokoriegel vorbeigehen konnte, hat sich all dieses Essen innerhalb weniger Tage in Plastik verwandelt. Nichts zerrt mehr an mir. Es ist mir egal. Manchmal überkommen mich noch wellenartige Sehnsüchte nach Mikados, doch dann drücke ich den Panikbutton auf dem iPhone: «Riech doch mal an Pfefferminz.» Wie bitte? Na gut. Meine Stimmung verbessert sich auch so. Und meine «Energie», dieses seltsamste aller Wellness-Ziele, kommt zurück. Ich bin wieder mein freundliches Selbst, nur dass es weniger Schlaf braucht – auch das ist offenbar eine bekannte körperliche Reaktion auf ein Leben mit wenig Zucker.
Timur Liwinski empfiehlt dennoch, Zucker nicht so ruckartig wegzulassen, wie ich es getan habe – sondern den Konsum lieber schrittweise zu reduzieren. «Wenn man ein festes Ritual aus Kaffee und Kuchen hat, dann könnte man anfangen, erst einmal den zugesetzten Zucker im Kaffee zu reduzieren. Dann kann man im nächsten Schritt über den Kuchen nachdenken. So stresst man sich nicht mit Totalverboten, die einen am Anfang nur frustrieren.»
Woche 3: Sehe ich plötzlich besser?
Jetzt passieren die seltsamsten Dinge. Meine Sinne und ich scheinen eine radikale Verjüngung durchzumachen. Ich habe das Gefühl, ich sehe schärfer als sonst. Und die normale Süsse von Karotten und Fenchel löst plötzlich eine Geschmacksexplosion in meinem Mund aus. Kaffee mit Milch schmeckt nun . . . süss, ausserdem kann ich beim Trinken den Unterschied zwischen frischer und H-Milch unterscheiden. Pickel verschwinden über Nacht, und meine morgendliche Aufstehzeit hat sich von einem schwerfälligen Start um halb sieben auf einen leichtfüssigen um sechs Uhr verschoben. Warum hat mir das denn niemand vorher gesagt, dass ich mich wie ein junges Reh fühlen würde?
«Unser Körper ist überhaupt nicht daran angepasst, so viel Zucker zu sich zu nehmen, wie wir es in unserer Gesellschaft gewohnt sind», erklärt Liwinski. «Lange Zeit war reiner Zucker weder verfügbar noch zugänglich. Bis zur Erschliessung der Zuckerrohrplantagen in der sogenannten Neuen Welt waren Zuckerquellen sehr rar, weil Zucker in der Natur kaum vorkommt. Und wenn, dann war er meist nur saisonal in geringen Mengen verfügbar.» Unser wichtigster Jagdgrund, der Supermarkt, ist ein Minenfeld, wenn man Zucker meiden will. «Man muss sich angewöhnen, auf versteckte Zuckerquellen zu achten. Ketchup, Müesli, Salatdressing, Fruchtjoghurt – das alles enthält versteckten Zucker. Und wir haben schon so eine hohe Zuckertoleranz entwickelt, dass wir subtilere Varianten von Süsse fast gar nicht mehr bemerken. Doch das Gehirn bemerkt das sehr wohl, und die Lebensmittelindustrie weiss das auch. Produkte mit Zucker verkaufen sich einfach besser, egal, ob wir ihn schmecken oder nicht», so der Experte.
Woche 4: Rückkehr zur neuen Normalität
Ich lebe noch immer ohne Zucker. Auf meiner App gedeiht ein kleiner Wald aus virtuellen Bäumen, das Ergebnis einer abendlichen Kontrollfrage: «Have you avoided all sweet food with sugar today?» Actually, I did. Dunkle Schokolade schmeckt auf einmal nicht mehr nach Spanholz mit Aluminium, sondern nach Schokolade und ist hervorragend dazu geeignet, in einen ungesüssten Joghurt mit frischen Himbeeren gehackt zu werden. Die subtile Süsse von Früchten, Milch, Joghurt, sie wirkt so stark, dass ich gar kein Bedürfnis mehr habe, Süssigkeiten zu essen. Als die Kinder plötzlich Haribos in die Wohnung schleppen, steigt mir der künstliche Geruch sofort in die Nase und hämmert an mein Hirn: Das ist doch nicht essbar?
Nun sind fast zwei Monate vergangen, und das Leben ohne Süssigkeiten ist für mich irgendwie normal geworden. Je weniger Zucker ich esse, desto geringer ist mein Verlangen danach. Das wirkt sich auch auf meine Lust auf Kohlenhydrate aus: Ich brauche gar keine Kartoffeln zum Abendessen, wenn ich Fleisch und Gemüse auf dem Teller habe. Eine Portion Pasta statt der üblichen zwei reicht völlig aus. Nur bei Sauerteigbrot, dem richtig guten, werde ich schwach.
Und sonst? Ob eine wundersame Verjüngung stattgefunden hat – schwer zu sagen. Und mein Gewicht? Nun ja, in Ermangelung einer Waage ist ein Fazit schwierig. Ja, meine Kleidung sitzt wieder besser und ich bilde mir ein, etwas athletischer auszusehen. Ich bin auf dem Fahrrad schneller, ohne mich anzustrengen, ich halte länger am Computer durch, ich kann mich besser konzentrieren. Was mich aber vor allem beeindruckt, ist die Leichtigkeit, mit der sich die neue Gewohnheit in mein Leben geschlichen hat. Offenbar ist es für mich einfacher, gar keinen Zucker zu essen, als es moderat und ausgewogen zu tun, wie es ja vermeintlich einfacher und lässiger wäre.