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Die finanzpolitische Lage im Kanton Tessin ist schwierig. Jetzt kommt es zu Spannungen. Und wohl bald zu einer Abstimmung.
Der Kanton Tessin befindet sich finanztechnisch in einem Provisorium. Denn der Grosse Rat hat das Kantonsbudget 2024 bis heute nicht verabschiedet, obwohl es vom Staatsrat im vergangenen Oktober vorgelegt wurde. Grund ist der Streit unter den politischen Parteien: Wegen einer Schuldenbremse muss der Kanton Tessin sparen. Doch die vorgesehenen Sparmassnahmen sorgen für Kritik von allen Seiten.
In Bellinzona gingen jüngst Tausende auf die Strasse, um insbesondere gegen die Lohnkürzungen bei Kantonsangestellten zu protestieren. Nun soll in der Parlamentssession vom 5. Februar endlich grünes Licht für das Budget gegeben werden. Dieser Tage haben sich die Mehrheitsparteien FDP, Lega und Mitte zu Kompromissen zusammengerauft. Doch durch die Rücknahme gewisser Sparmassnahmen wird das Defizit in der laufenden Rechnung um zirka 20 Millionen auf 120 Millionen Franken erhöht.
Die Budgetdebatte wird derweil von einem Referendum überschattet, weil der Grosse Rat im Dezember eine Revision des Steuergesetzes beschlossen hat, die unter anderem vorsieht, die höchsten Einkommensklassen steuerlich zu entlasten, um den Kanton etwa für Manager attraktiver zu machen.
Für die Linke und die Grünen ist das ein Skandal. «Den Reichen wird gegeben, während gleichzeitig Sozialleistungen gestrichen werden», heisst es bei der SP und anderen Linksparteien. «Vergogna» – Schande –, skandierten die Demonstrierenden bei der Kundgebung. Unter dieser Voraussetzung hatten die Linksparteien keine Mühe, die nötigen 7000 Unterschriften für ein Referendum gegen die Steuergesetzrevision zu sammeln. Es dürften wesentlich mehr Unterschriften sein, wie der SP-Co-Kantonalpräsident Fabrizio Sirica auf Anfrage erklärt. Ende nächster Woche sollen diese bei der Staatskanzlei in Bellinzona deponiert werden. Die Volksabstimmung dürfte im Juni folgen.
Auf den 16. Platz vorrücken
Was umfasst das Steuerpaket genau? Eigentlich war vorgesehen, den Spitzensteuersatz bis 2025 in zwei Etappen von 15,07 auf 12 Prozent zu senken. Der Grosse Rat hat diesen Vorschlag bereits «entschärft», indem der Spitzensteuersatz sukzessive in sechs Etappen bis 2030 um 0,5 Prozent pro Jahr reduziert wird. Das Vorhaben bleibe aber wichtig: «Diese Reduktion erlaubt uns, im interkantonalen Steuerwettbewerb bei den Einkommenssteuern vom 21. auf den 16. Rang vorzurücken», so argumentierte Wirtschafts- und Finanzminister Christian Vitta (FDP) in der Parlamentsdebatte. In der Rangliste der Spitzensteuersätze bei den Einkommen steht der Kanton Genf an letzter Stelle, während der Kanton Zug am attraktivsten ist.
Für Geringverdiener mit einem Jahreseinkommen bis 60 000 Franken ist das Tessin im Vergleich zu anderen Kantonen sehr günstig und sozial. Aus Sicht des Direktors des kantonalen Steueramtes, Giordano Macchi, besteht Handlungsbedarf auf der anderen Seite der Skala. «Es ist auch eine strategische Antwort auf die Einführung der Minimalsteuer von 15 Prozent für Unternehmen», so Macchi. Denn während bei Unternehmen nun kein Spielraum für steuerliche Anreize mehr bestehe, könnten die Kantone ihre Attraktivität für Manager mit Topsalären erhöhen, was sich auf den Standort positiv auswirke.
In den letzten Jahren war der Wanderungssaldo negativ, das heisst, mehr wohlhabende Personen sind vom Kanton Tessin weggezogen als dort angekommen.
Streik angekündigt
Auf der Linken prallen solche Argumente allerdings ab. «Das Votum über die Steuerreform ist wegweisend für die Politik der nächsten Jahre», gab die SP-Co-Präsidentin Laura Riget dieser Tage zu Protokoll. Sollte das Referendum Erfolg haben, fallen indes auch die unbestrittenen Teile der Reform weg – höhere Abzüge für berufsbedingte Aufwendungen, eine Reform der Erbschafts- und Schenkungssteuer sowie die Besteuerung von Kapitalleistungen aus der beruflichen Vorsorge. Gerade beim letzten Punkt herrscht hoher Handlungsbedarf, wie das Beispiel eines 65-jährigen Mannes zeigt, der für den Bezug von einer Million Franken aus der Vorsorge in Lumino (Tessin) 140 338 Franken Steuern bezahlen muss, während er im benachbarten San Vittore (Graubünden) nur 58 000 Franken abgeben müsste.
Die diversen finanzpolitischen Manöver sorgen für eine aufgeheizte politische Stimmung im Kanton Tessin. Und die Spannungen dürften noch zunehmen. Für nächste Woche sind anlässlich der Session des Grossen Rats weitere Protestaktionen angesagt, ausserdem planen Gewerkschaften und Personalverbände des öffentlichen Dienstes einen Streiktag. Am 29. Februar sollen die Kantonsangestellten die Arbeit niederlegen.