Bei einem frühzeitigen Tod kann es in der zweiten Säule zu stossenden Ungerechtigkeiten kommen: etwa, dass von zwei Kindern nur eines das gesamte Vorsorgekapital erhält, während das andere leer ausgeht.
Die Freizügigkeit gilt als das «hässliche Entlein» im Schweizer Vorsorgesystem. In diese Kategorie fallen Vorsorgegelder, die nicht von einer Pensionskasse verwaltet werden. Ein typischer Fall ist die Arbeitslosigkeit: Wer eine Kündigung erhält, verliert in der Regel seine Pensionskasse. Dasselbe geschieht etwa bei Babypausen oder einem Auslandsaufenthalt. Auch geschiedene Frauen, die nicht arbeitstätig sind, müssen das Vorsorgekapital des Ex-Partners auf einem Freizügigkeitskonto deponieren. Laut Schätzungen geht es insgesamt um 70 Milliarden Franken.
Der grösste Nachteil der Freizügigkeit besteht darin, dass die versicherte Person ihr Guthaben nicht als Rente beziehen kann. Möglich ist stattdessen oft nur der Kapitalbezug. Ebenso schreibt der Bund keine Mindestverzinsung vor wie bei den Pensionskassen. Kaum bekannt ist zudem, dass es namentlich bei Todesfällen vor dem Erreichen des Pensionsalters zu stossenden Ungerechtigkeiten kommen kann.
Mario Bucher vom Vorsorgespezialisten Pensexpert verdeutlicht dies an einem Beispiel: Eine geschiedene Frau, welche 500 000 Franken auf ihrem Freizügigkeitskonto parkiert hat, stirbt. Sie hinterlässt zwei Söhne: Der ältere, 23-jährige befindet sich noch in der Ausbildung, während der jüngere, 21-jährige seine Berufslehre abgeschlossen hat und arbeitet.
«Gemäss der gesetzlichen Regelung erhält der ältere Sohn diese 500 000 Franken, während der jüngere komplett leer ausgeht», erklärt Bucher. «Dass die beiden Nachkommen so ungleich behandelt werden, ergibt jedoch keinen Sinn.» Der Grund für diese Benachteiligung liegt laut dem Vorsorgeexperten an der starren, vom Gesetz vorgegebenen Reihenfolge bei der Anspruchsberechtigung.
Willkürliche Regeln bei der Begünstigung
An erster Stelle stehen demnach – falls vorhanden – die hinterbliebene Person aus der Partnerschaft sowie unterstützungspflichtige Kinder. «Gemäss dem Verordnungsartikel können die unterstützungspflichtigen Kinder nicht mit den übrigen Kindern kombiniert werden», so Bucher. «Deshalb geht im vorliegenden Fall das gesamte Vorsorgekapital an den älteren Sohn, der wegen seiner Ausbildung als unterstützungspflichtig gilt.» Im Prinzip gilt die Pflicht bis zum 18. Altersjahr. Wenn sich das Kind allerdings noch in Ausbildung befindet, so erhöht sich diese Limite bis zum 25. Altersjahr.
Wie willkürlich diese Begünstigtenordnung ist, zeigt folgender Vergleich: Hätte die geschiedene Frau ihre Altersvorsorge in einer Pensionskasse angespart statt in der Freizügigkeit, so hätte sie die Gleichbehandlung der beiden Söhne veranlassen können, betont Bucher. «Wichtig ist in jedem Fall, dass der Versicherte klar festgelegt hat, nach welchen Kriterien er die Begünstigung vornehmen will. Denn die Pensionskassengelder sind nicht dem Erbrecht unterstellt und fallen daher nicht in den Nachlass.»
Auch unter den PK-Versicherten beobachte er regelmässig, dass diese es versäumten, ihre Begünstigung zu deklarieren, sagt der Vorsorgeexperte. Ein aktuelles Beispiel betreffe ein Paar, das dreissig Jahre im Konkubinat zusammengelebt habe. «Die Partnerin ist an Krebs gestorben und hatte den Hinterbliebenen nicht bei der PK gemeldet. Eine einzige fehlende Unterschrift führt nun dazu, dass die Hinterlassenenrente im fünfstelligen Bereich nicht ausbezahlt wird.»
Erschwerend kommt hinzu, dass das Alterskapital oft grösser ausfällt als das übrige vererbte Vermögen. Deshalb ist inzwischen auch die Politik auf die starren und überholten Regelungen bei der Begünstigung aufmerksam geworden. So hat der FDP-Nationalrat Philippe Nantermod kürzlich ein Postulat eingereicht, welches den Versicherten mehr Flexibilität bei der Erbfolgeplanung bei Vorsorgegeldern gewähren soll.
Die leiblichen Kinder erhalten nichts
Mit seinem Vorstoss will der Walliser Nationalrat besonders den Bedürfnissen von Patchworkfamilien entgegenkommen. Die heutige strikte Reihenfolge der Begünstigung im Todesfall kann hier ebenfalls zu unerwünschten Ergebnissen führen. Als Beispiel: Jemand hat Kinder aus einer früheren Beziehung und heiratet erneut. Stirbt diese Person, so geht das Vermögen in der Säule 3a zwingend an den überlebenden Ehegatten, während die leiblichen Kinder nichts erhalten.
Im letzten Jahr hat der Bundesrat nun entschieden, ein moderneres Gesetz zu erarbeiten, um den Spielraum von Patchworkfamilien in der dritten Säule zu verbessern. Leider sei der Bund damit aber auf halbem Weg stehengeblieben, kritisiert Mario Bucher von Pensexpert. «Auch bei der Freizügigkeit müsste der Bund dringend die heutigen Ungerechtigkeiten beseitigen. Denn es handelt sich hier um die eigenen Ersparnisse der Versicherten: Deshalb sollten sie diese auch gemäss ihren persönlichen Bedürfnissen einsetzen können.»
Der Experte sagt, ihm gehe es auch um den guten Ruf der beruflichen Vorsorge. «Nachdem verschiedene Reformen gescheitert sind, ist es jetzt umso wichtiger, dass die Politik zumindest die dringlichsten Baustellen in Ordnung bringt.» Oft genüge dabei eine simple Anpassung der Verordnung, welche der Bundesrat eigenständig umsetzen könne. Neben der Modernisierung und Aufwertung der Freizügigkeit bestehe in weiteren Bereichen Handlungsbedarf: «Dass Mehrfachbeschäftigte und Geringverdiener sich der zweiten Säule nicht oder nur mit einem Bruchteil ihres Lohnes anschliessen können, sehe ich ebenfalls als politisches Versäumnis.»
Auch die Versicherten müssten sich der Bedeutung der Vorsorge besser bewusst werden, so Bucher. Solange man im Arbeitsprozess eingebunden sei, kümmere sich die Pensionskasse um alle diese Fragen. Doch bei einem Jobverlust zum Beispiel müssten Leute, die keine Ahnung von Finanzen hätten, plötzlich entscheiden, wie sie Hunderttausende Franken anlegen wollten oder wer im Todesfall das Kapital erhalten solle.