Europa muss sich in Zukunft selber verteidigen können. Doch wie sollen die Mehrausgaben finanziert werden – und gilt der Zielkonflikt «Butter oder Kanonen» noch immer?
Derzeit scheinen finanzpolitisch alle Dämme zu brechen. Um die in Europa jahrzehntelang vernachlässigten Armeen wieder in Form zu bringen, werden Ausgabenpakete in historischem Ausmass geschnürt. Die EU hat einen Plan vorgelegt, mit dem sie bis zu 800 Milliarden Euro mobilisieren will, wobei den Mitgliedstaaten erlaubt wird, die Defizitregeln beiseitezuschieben. Auch Deutschland lässt sich nicht lumpen, hebelt die Schuldenbremse aus und will mit dreistelligen Milliardenbeträgen die Verteidigung und die Infrastruktur stärken.
Drei Möglichkeiten stehen offen
Vielerorts wird Kritik laut – gerade in Deutschland, wo sich Friedrich Merz, der demnächst ins Bundeskanzleramt einziehen dürfte, noch vor kurzem als Verteidiger der Schuldenbremse profiliert hatte. Aber der Wahlkampf ist vorbei. Und in Amerika macht Präsident Donald Trump immer deutlicher, dass die rund achtzig Jahre alte Sicherheitsgarantie der USA für Europas Demokratien der Vergangenheit angehört. Europa muss selber die Verantwortung für seine Verteidigung übernehmen – wozu es derzeit noch nicht in der Lage ist.
Dass die notwendig werdenden Mehrausgaben fast ausschliesslich über Neuschulden – und damit zulasten künftiger Generationen – finanziert werden sollen, mag ordnungspolitisch bedenklich sein. Das Vorgehen ist aus historischer Sicht aber nichts Neues. Ganz im Gegenteil, wie eine vor kurzem veröffentlichte Studie des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft (IfW) zeigt. Darin werden Daten zur Finanzierung von 113 Episoden militärischer Aufrüstung in insgesamt 22 Ländern untersucht, und zwar für den Zeitraum von 1870 bis 2020.
Grundsätzlich stehen Staaten drei Möglichkeiten offen, um steigende Verteidigungsausgaben zu finanzieren: Kreditaufnahme, Steuererhöhungen und Einsparungen bei anderen Haushaltposten. Die Analyse des IfW zeigt nun, dass Regierungen in den letzten 150 Jahren ihre Aufrüstung überwiegend durch Schulden finanziert haben. Mit der Zeit wurden die Defizite dann oft durch Steuererhöhungen flankiert oder abgelöst. Ausgabenkürzungen gab es dagegen kaum; die nichtmilitärischen Ausgaben stiegen in Zeiten der Aufrüstung tendenziell sogar noch an.
Der Korea-Krieg als Ausnahme
Ein weiteres historisches Muster: je grösser die Aufrüstung, desto stärker der Rückgriff auf Kredite. Auch die beiden Weltkriege wurden vor allem durch Schulden finanziert. Eine besondere Form der Kreditaufnahme fand Mitte der 1930er Jahre durch die Nazis statt. Diese finanzierten die Aufrüstung der Wehrmacht durch sogenannte Mefo-Wechsel. Die vom Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht eingeführten Wechsel waren eine Art Parallelwährung, mit der – am Kapitalmarkt und am Haushalt vorbei – die Wiederaufrüstung finanziell verschleiert werden sollte.
Auch wenn steigende Militäretats meist mit Schulden finanziert werden: keine Regel ohne Ausnahme. So verweisen die Ökonomen des IfW etwa auf Grossbritannien in den 1930er Jahren. Weil das Land damals mit hoher Verschuldung kämpfte, drängte man auf einen ausgeglichenen Haushalt. Entsprechend wuchsen die Militärausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) nur langsam. Diese «Fiscal-first»-Politik war rückblickend wohl ein wichtiger Grund dafür, dass Grossbritannien militärisch nur unzureichend auf den Kriegsausbruch vorbereitet war.
Nicht ins Muster einer schuldenfinanzierten Aufrüstung passt auch der Korea-Krieg zwischen 1950 und 1953. Diesen Konflikt finanzierten die USA vor allem durch Steuererhöhungen. Präsident Harry Truman legte Wert auf einen ausgeglichenen Haushalt und hatte bei diesem Ziel auch den Kongress hinter sich. Also wurden sowohl die Einkommens- als auch die Unternehmenssteuern stark erhöht; zudem senkte man die nichtmilitärischen Staatsausgaben. Ein Defizit liess sich mit dieser Politik zwar nicht vermeiden, aber die Lücke im Haushalt blieb vergleichsweise klein.
Schulden sind keine dauerhafte Lösung
Was ist wirtschaftlich zu empfehlen: der Rückgriff auf Schulden, die Erhöhung der Steuern oder die Senkung nichtmilitärischer Ausgaben? Eine klare Antwort gibt es nicht. In einer Meta-Studie, die den Konsens der Ökonomie zu ergründen versucht, kommt Ethan Ilzetzki (London School of Economics) zu folgendem Schluss: Für eine temporäre Erhöhung des Wehretats empfehlen sich Schulden. Permanent höhere Rüstungsausgaben müssen hingegen aus laufenden Steuereinnahmen finanziert werden, denn Verteidigung ist eine staatliche Kernaufgabe.
Hält man sich an diese Handlungsempfehlung, sollte sich Europa nicht ausschliesslich auf höhere Schulden stützen. Zielt man auf eine Verteidigungsfähigkeit, die auch langfristig nicht mehr auf die Hilfe der USA angewiesen ist, benötigen die Armeen mehr als einen einmaligen Anschub. Die Militärausgaben müssen kontinuierlich auf ein höheres Niveau gehievt und aus den laufenden Haushalteinnahmen nachhaltig finanziert werden. Das bedingt Ausgabensenkungen, Steuererhöhungen – oder beides zugleich.
Derzeit betragen die Verteidigungsausgaben der EU rund ein Drittel der Ausgaben der USA. Laut der Datenbank des Stockholm International Peace Research Institute (Sipri) liegen die Ausgaben der USA bei 916 Milliarden und jene der EU bei 313 Milliarden Dollar. Nur zehn EU-Mitgliedländer kommen der Nato-Verpflichtung nach und geben mindestens zwei Prozent ihres BIP aus. Hätten 2024 alle EU-Mitglieder, die der Nato angehören, das Zwei-Prozent-Ziel erreicht, wäre dies mit zusätzlichen Ausgaben von rund 60 Milliarden Euro einhergegangen.
Der Unsinn fixer Ausgabenquoten
Seit Monaten wird auf beiden Seiten des Atlantiks darum gerungen, ob die Ausgaben für die Verteidigung bei zwei Prozent (Nato-Richtlinie), bei fünf Prozent (Forderung von Trump) oder «deutlich über drei Prozent» (Nato-Generalsekretär Mark Rutte) liegen sollen. So greifbar solche fixen Ausgabenquoten sein mögen – sie kommen auch in anderen Politikbereichen wie der Entwicklungshilfe vor –, aus ökonomischer Sicht sind sie heikel. Denn entscheidend für die Qualität einer Armee ist nicht, wie viel Geld hineingesteckt wird, sondern was dabei herauskommt.
Ein Nachteil fixer Quoten ist zudem deren prozyklische Wirkung: Sinkt das BIP, sinken die Ausgaben, was die Wirtschaft zusätzlich belastet. Umgekehrt steigen die Ausgaben in einem Boom und führen allenfalls zu einer Überhitzung. Ethan Ilzetzki betont zudem, dass bei Rüstungsgütern am Anfang oft hohe Beschaffungskosten anfielen, während die Wartungskosten danach niedriger seien. Fixe Ausgabenquoten führen daher zu unzureichenden Ausgaben in den frühen Phasen der Aufrüstung und verleiten zu Verschwendungen in späteren Phasen.
Wie hoch die Quoten auch immer sein mögen: Europa wird einen grösseren Teil seiner Wirtschaftskraft für Rüstung aufwenden müssen. Ob dies die Bevölkerung ärmer macht und ein Zielkonflikt zwischen Verteidigung und Privatkonsum («Butter oder Kanonen») existiert, bleibt umstritten. Ilzetzki kommt in seiner Meta-Studie zum Schluss, dass Militärausgaben das Wirtschaftswachstum kurzfristig zwar ankurbeln. Ob das auch langfristig gilt, hängt aber nicht zuletzt davon ab, wie stark eine Aufrüstung zur Verdrängung von produktiveren Investitionen im Privatsektor führt.
78 Prozent des Geldes fliessen ins Ausland
Eine sehr positive Sicht auf Rüstungsausgaben nimmt Mario Draghi in seinem Bericht zu Europas Wettbewerbsfähigkeit («Draghi-Report») ein, den er im Auftrag der EU erstellte und im September 2024 präsentierte. Darin bezeichnet der frühere Chef der Europäischen Zentralbank den Rüstungssektor als Innovationsmotor für die Wirtschaft. Er verweist auf Innovationen, welche der Verteidigungssektor hervorbrachte und die die Wirtschaft stimulierten, etwa das Internet, GPS, Satellitenbilder und das Infrarot. Auch das Silicon Valley sei ein Kind der Rüstungsindustrie.
Die Crux: Ein Grossteil der Innovationen wird ausserhalb Europas entwickelt. Damit sich das ändert, muss Europa mit seinem stark fragmentierten Verteidigungssektor die Abhängigkeit vom Ausland abbauen. Derzeit fliessen in der EU laut dem «Draghi-Bericht» 78 Prozent der Rüstungsbeschaffungen an Firmen ausserhalb der EU, davon 63 Prozent in die USA. Die Verkäufe amerikanischer Rüstungsgüter in Europa stiegen zwischen 2021 und 2022 um 89 Prozent. «Gleichzeitig bleibt der US-Markt geschlossen für europäische Firmen», so Draghi.
Die Abhängigkeit abzubauen, wird nicht von heute auf morgen möglich sein. Und die Notwendigkeit, bei der Stärkung der Rüstungsindustrie die vielen Doppelspurigkeiten zu vermeiden und die Beschaffung über die Grenzen hinweg stärker zu koordinieren, wird in vielen europäischen Hauptstädten auf Widerstand stossen, weil nationale Zuständigkeiten tangiert werden. Wenn es Europa aber nicht gelingt, mehr Effizienz in seine Verteidigungsindustrie zu bringen, wird die ohnehin hohe Schuldenlast noch schwerer wiegen.