Als einer der grossen Romanciers und Essayisten Lateinamerikas schrieb er gegen Gewalt und Ungerechtigkeit an. Im Jahr 1990 bewarb er sich erfolglos um das Präsidentenamt in seiner Heimat Peru. Nun ist der Jahrhundertschriftsteller im Alter von 89 Jahren gestorben.
Es ist ein Lärm, der da einprasselt auf die Welt, die Ohren zudröhnt und ablenkt vom Wesentlichen. Tag für Tag bedrängt er das Publikum, nimmt ihm Zeit und Kraft zur Konzentration. Kein Wunder darum, dass es irgendwann nachgibt, sich gehen lässt, den Atem verliert. Sich mit immer kleineren, immer banaleren Themen abspeisen lässt. Und als wäre das nicht schlimm genug, folgt der Gipfel von Anmassung und Unverschämtheit erst noch. Er besteht darin, dass man sich darauf geeinigt hat, den Lärm unserer Tage als «Kultur» zu bezeichnen. Als wäre Kultur nicht etwas ganz anderes als jene schnell hingeworfenen Produkte des Boulevards, die jedenfalls den Verächtern der Zerstreuung mehr und mehr die Nerven rauben.
Es sind flammende Zeilen, die Mario Vargas Llosa in seinem Essay «Alles Boulevard» der allgegenwärtigen Unterhaltungsindustrie entgegenschleuderte – ein Aufgebot aus einem Reich, das zwar nicht im Schwinden begriffen ist, dessen Bewohner es jedoch immer schwerer haben, auf sich, nein: auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Echte Kultur hat es schwer gegen Surrogatkultur. Denn echte Kultur ist unbequem, will sie doch vor allem eines: sich der Welt zuwenden, sich ihr stellen. Und es notfalls mit ihr aufnehmen. «Romane zu schreiben», notierte Mario Vargas Llosa an anderer Stelle einmal, «ist ein Aufstand gegen die Wirklichkeit, gegen Gott, gegen die Schöpfung Gottes, die die Wirklichkeit ist.»
Anders kann man wohl kaum denken, wenn man in einem Land aufwächst, das von den grossen Ideologien der eigenen Zeit zerrissen ist. Während der berühmte peruanische Philosoph José Carlos Mariátegui die Ideen des Marxismus in seinem Land und darüber hinaus zu verbreiten sucht, knüpfen die herrschenden Militärs zeitgleich Kontakte zum faschistischen Spanien General Francos. Unversöhnlich stehen sich die beiden ideologischen Lager gegenüber; in den Wahlen der folgenden Jahre gewinnt mal die eine, mal die andere Gruppe. 1968 setzt ein Putsch unter General Juan Velasco Alvarado dem politischen Kräftemessen ein Ende, zwischen Kommunismus und Kapitalismus soll es nun ein weiterer, ein «dritter Weg» richten.
«Peru ist beschissen. Alle sind beschissen»
Vargas Llosa applaudiert der Politik des Generals, der den Kleinbauern Acker- und Weideflächen zukommen und sie an den natürlichen Reichtümern des Landes teilhaben lassen will. Doch auch Velasco Alvarado regiert mit grimmiger Entschlossenheit, und so verlaufen die Entscheidungsprozesse weiterhin wie gewohnt: unter autoritären Vorzeichen. Die peruanische Gesellschaft ist straff durchorganisiert, und entsprechend gering sind die Möglichkeiten der Bürger, eigene Entscheidungen zu treffen. «Im Heer», erklärt ein Kommandant aus Vargas Llosas erstem, 1963 erschienenem Roman «Die Stadt und die Hunde», «setzt sich Gerechtigkeit früher oder später durch. Gerechtigkeit ist Bestandteil seines Systems.»
Gerechtigkeit aber, das ist vor allem Disziplin, besser noch: Disziplinierung. Mit aller Konsequenz geht das Militär seine Rekruten an, unterwirft sie einem Regime, an dem die einen wachsen und die anderen zerbrechen. «Peru ist beschissen. Alle sind beschissen. Eine Lösung gibt es nicht», erklärt einer der Protagonisten von Vargas Llosas drittem Roman «Unterhaltung in der Kathedrale». Und sosehr Vargas Llosa in diesem Roman doch bereits die formalen Grenzen erweitert, die übliche Ordnung des Erzählens durch sich überlagernde Stimmen, Zeiten und Räume erweitert hat, so präsent ist doch die peruanische Gegenwart, die drückende, lastende Wirklichkeit eines Landes, das politisch ebenso wenig vorankommt wie wirtschaftlich.
Was tun gegen die nationale Misere? Man muss die Verhältnisse auf den Kopf stellen, glaubt der junge Vargas Llosa und träumt, wie so viele Lateinamerikaner seiner Generation, von der Revolution. Ein kleiner Inselstaat in der Karibik, Kuba, hat vorgemacht, wie das geht, und darum ist auch Vargas Llosa ein glühender Verehrer Fidel Castros – zunächst jedenfalls. Aber schon in den frühen siebziger Jahren wird ihm immer unbehaglicher angesichts der unübersehbaren Repression, die Castro an den Tag legt. Eingekerkerte und mundtot gemachte Oppositionelle, eine Bevölkerung, die ihre Heimat nicht verlassen darf: Das veranlasst Vargas Llosa, seine politischen Positionen noch einmal zu überdenken.
Er irrt sich in Fidel Castro
Zu Castro wird er in den folgenden Jahren immer schärfere Worte finden. Es sei möglich, dass Castro der Einzige sei, der den Unsinn glaube, den er verzapfe, schreibt Vargas Llosa im Jahr 2004 in einem seiner Essays in der spanischen Tageszeitung «El País». Das hindere ihn freilich nicht daran, seine Lehren zu verbreiten, «als seien es offenbarte Wahrheiten». Man kann eine solche Position als «rechts» bezeichnen – ebenso gut aber auch als «liberal». Denn ebenso entschieden wie gegen linke ging und geht Vargas Llosa gegen rechte Autokraten vor. Im Herbst 1976, kurz zuvor haben sich in Argentinien die Militärs an die Macht geputscht, schreibt er als Präsident des PEN International einen Brief an den argentinischen Staatschef General Videla, in dem er die unter den Militärs verübten Menschenrechtsverletzungen in aller Deutlichkeit anspricht.
Um nicht nur zu mahnen, sondern selbst zu gestalten, tritt Vargas Llosa 1990 als Kandidat bei den peruanischen Präsidentschaftswahlen an, in denen er aber gegen Alberto Fujimori verliert, der das Land für die kommenden zehn Jahre mit harter Hand reagiert. Kaum an der Macht, droht Fujimori dem unterlegenen Gegenspieler mit dem Verlust der peruanischen Staatsbürgerschaft. Umgehend beantragt Vargas Llosa in Madrid, wohin er nach der Wahl gezogen ist, die spanische Staatsbürgerschaft, die ihm 1993 auch gewährt wird. Einen etablierten Rechtsstaat im Rücken, kann er sich nun mit geringerem persönlichem Risiko in die politischen Debatten der Gegenwart einmischen.
Vornehmstes Ziel seiner Kritik sind weiterhin die Autokraten: Die Regierung der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner bezeichnet er 2011 während der Eröffnungsrede der Buchmesse von Buenos Aires als «völliges Desaster», als «schlimmste Form von Peronismus, Populismus und Anarchie». Nicht minder harte Worte findet er im Sommer 2013 für die politischen Verhältnisse in Venezuela. Dort sieht er «Demagogie, Korruption und Gewalt» am Werk. Für diese wie auch für viele andere gegen den Geschmack des linken Justemilieu verstossende Worte ist Vargas Llosa vielfach angegriffen worden. Und doch drückt sich in seinem politischen Sinneswandel eine keineswegs selbstverständliche intellektuelle Fähigkeit aus: nämlich die, sich zu ändern, Abschied von gewohnten Weltbildern zu nehmen, dem als richtig Erkannten auch dann zu folgen, wenn hinter einem eine laute ideologische Meute kläfft.
Wie aber haben sich die politischen Missstände Lateinamerikas so lange halten können? Teilweise durch nichts als blosse Gewalt. Wie die sich zur Herrschaftssicherung einsetzen lässt, hat Vargas Llosa in seinem Roman «Das Fest des Ziegenbocks» gezeigt, einem politisch-psychologischen Porträt des dominikanischen Potentaten Rafael Leónidas Trujillo, der sein Land bis zu seiner Ermordung 1931 diktatorisch regierte und plünderte. Doch Macht kann auch auf der Kunst der Verführung beruhen, dem Versprechen auf eine andere, bessere Welt.
Anschreiben gegen die Gewalt
Diesem Phänomen ist Vargas Llosa in seinem Buch «Der Krieg am Ende der Welt» nachgegangen. Der Roman handelt von einem heilsgeschichtlich motivierten Aufstand im Hinterland von Brasilien im ausgehenden 19. Jahrhundert. In jener Zeit herrschen dort anarchische Verhältnisse: Allmächtige Grossgrundbesitzer betrachten die unzähligen Tagelöhner als willenlose Verfügungsmasse und gehen entsprechend mit ihnen um. Ihre rechtlose Lage ist ein mehr als fruchtbarer Boden für den Glauben an das nahende Weltenende, das der Prediger Antônio Conselheiro («Ratgeber») vorhersagt. Tausende Verzweifelte sammelt er durch seine Predigten auf und gründet mit ihnen einen Staat im Staate. Vier Feldzüge benötigte die Regierung in Rio de Janeiro, um das Terrain wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Eindrücklich zeigt Vargas Llosa, welche Kräfte Ideologie freizusetzen vermag. Wie sich solche Energien in den linken Heilsvorstellungen des 20. Jahrhunderts entfalten, hat Vargas Llosa in seinem Roman «Historia de Mayta», in dem er die intellektuelle Entwicklung eines peruanischen Trotzkisten verfolgt. Nicht alle Werke Vargas Llosas sind indes überzeugend. Insbesondere in den letzten Jahren schien es, als seien dem peruanischen Romancier die Themen oder Ideen ausgegangen. «Der Traum des Kelten» oder «Ein diskreter Held» sind keine schlechten Bücher, können aber an die früheren, ungleich energischeren Werke des «angry young man» nur bedingt anschliessen. Dennoch: Der politisch ebenso streitbare wie persönlich liebenswürdige Peruaner ist einer der ganz grossen Autoren des 20. Jahrhunderts, der es mit seinen Werken zu höchster literarischer Anerkennung gebracht hat – unter anderem zum Rómulo-Gallegos- und zum Cervantes-, 2010 gar zum Nobelpreis.
Mario Vargas Llosa starb am Sonntag im Alter von 89 Jahren in der peruanischen Hauptstadt Lima, umgeben von seiner Familie und «in Frieden», wie sein Sohn Álvaro Vargas Llosa auf der Plattform X schrieb.
Con profundo dolor, hacemos público que nuestro padre, Mario Vargas Llosa, ha fallecido hoy en Lima, rodeado de su familia y en paz. @morganavll pic.twitter.com/mkFEanxEjA
— Álvaro Vargas Llosa (@AlvaroVargasLl) April 14, 2025