Russland macht die USA direkt für die Tötung von Zivilisten bei einem ukrainischen Raketenangriff verantwortlich. Die Debatte über den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Staatsgebiet spielt dabei eine wichtige Rolle.
Das Kriegsgeschehen hat am Sonntag auf der besetzten Krim eine rekordhohe Zahl ziviler Opfer gefordert. Laut dem von Moskau eingesetzten Bürgermeister der Hafenstadt Sewastopol wurden infolge eines ukrainischen Raketenangriffs mindestens vier Personen getötet und mehr als 150 weitere verletzt, die meisten von ihnen an einem öffentlichen Badestrand im Norden der Stadt. Im russisch kontrollierten Gebiet wäre dies eine der höchsten Opferzahlen auf ziviler Seite seit Kriegsbeginn.
Weil die beim Einsatz angeblich verwendeten ATACMS-Raketen aus den USA stammten und sich deren Flugroute auf Daten amerikanischer Satelliten stütze, trage Washington direkte Verantwortung für den Angriff, erklärte das Verteidigungsministerium in einer Stellungnahme. Am Montag bestellte das russische Aussenministerium die amerikanische Botschafterin Lynne Tracy ein.
Moskau droht mit Vergeltung
Bemerkenswert ist, wie sich die russische Darstellung des Angriffs mit steigender Opferzahl veränderte. In einer ersten Stellungnahme sprach das Verteidigungsministerium von fünf ukrainischen Lenkraketen, von denen vier durch die russische Raketenabwehr zerstört und eine fünfte von ihrer Flugbahn abgebracht worden sei. Als der Sprengkopf über dem Stadtgebiet explodiert sei, seien durch herabfallende Splitter mehr als zwanzig Zivilisten verletzt worden.
Zwei Stunden später veröffentlichte das Ministerium eine weitere Mitteilung. Dort war nicht mehr von einer veränderten Flugroute, sondern von einem vorsätzlichen Terrorangriff auf friedliche Bürger die Rede. Die Detonation des mit Streumunition bestückten Gefechtskopfs der amerikanischen Rakete habe zu zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung geführt. Solche Aktionen würden nicht unbeantwortet bleiben.
Zwischen Militärflugplatz und Flottenstützpunkt
Kiew hat sich bisher nur indirekt zum Angriff geäussert. Auf der Krim gebe es Hunderte von direkten militärischen Zielen, die Russland mit der eigenen Zivilbevölkerung zu decken versuche, schrieb der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak auf Telegram.
Nur wenige Kilometer nördlich vom Strand Utschkujewka, an dem die meisten Opfer zu Schaden kamen, befindet sich der Sewastopoler Flughafen Belbek. Seit der russischen Annexion der Krim 2014 wird dieser nur noch für militärische Zwecke verwendet. Etwas südlich wiederum liegt der als Flottenstützpunkt dienende Hafen von Sewastopol.
Dass der ukrainische Angriff einem dieser legitimen militärischen Ziele galt und die Rakete nach Kontakt mit der russischen Flugabwehr nicht am Zielort detonierte, erscheint durchaus plausibel.
Debatte um Einsatz westlicher Waffen auf russischem Staatsgebiet
Nach humanitärem Völkerrecht berechtigt ist allenfalls die Frage nach der Verhältnismässigkeit, wenn ein militärisches Ziel in der Nähe eines Naherholungsgebiets an einem Sonntagnachmittag ins Visier genommen wird, insbesondere falls tatsächlich Streumunition zum Einsatz gekommen sein sollte. Unabhängig verifizieren lässt sich das bis jetzt nicht.
Die russischen Behörden müssen sich ihrerseits den Vorwurf gefallen lassen, den Schutz der Bevölkerung zu vernachlässigen. Russische Militärblogger kritisierten auf Telegram, dass es am Utschkujewka-Strand trotz der Nähe zu militärischen Zielen keine Schutzeinrichtungen gebe, wie sie etwa in der Region Belgorod errichtet worden seien. Ausserdem sei während des Angriffs kein Raketenalarm ertönt.
Doch mit solchen Feinheiten halten sich die offiziellen Meinungsmacher in Russland nicht auf. Vor dem Hintergrund der Debatte über den Einsatz westlicher Waffen auf russischem Staatsgebiet verbreiteten die russischen Abendsendungen das Narrativ vom vorsätzlichen Terrorangriff mit amerikanischer Hilfe weiter.
Die USA hatten erst kürzlich die Einschränkungen zur Verwendung von ATACMS-Raketen gelockert. Für die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Krim galten diese Beschränkungen aber ohnehin nicht.
Parallelen zu Dagestan
Russische Kommentatoren forderten zum Teil drastische Gegenmassnahmen, etwa die Zerstörung amerikanischer Satelliten. Der frühere Regierungschef Dmitri Medwedew, der sich durch besonders radikale Äusserungen zu profilieren sucht, zog eine Parallele zu den islamistischen Terroranschlägen in Dagestan.
Medwedew schrieb auf Telegram, für ihn gebe es keinen Unterschied zwischen verrückten Fanatikern, den amerikanischen Behörden und dem «Bandera-Regime» – eine abschätzige Bezeichnung für die ukrainische Regierung.