Der Getränkekonzern, der in den letzten Jahren Kritik auf sich zog, will mit der Mannschaft Bora die Tour de France gewinnen. Andere Radteams werden von Sorgen geplagt: Jumbo-Visma war 2023 überaus erfolgreich und kämpft dennoch um seine Existenz.
Der Strassenradsport, der in diesen Tagen in Australien den Saisonstart erlebt, zehrt von seiner grossen Tradition. Er hat Millionen Fans auf der ganzen Welt, die sich für eine Generation von Ausnahmekönnern begeistern. Und zumindest das flächendeckende Doping dürfte Geschichte sein. Auf den ersten Blick also ist einiges gut – doch aus ökonomischer Sicht geht es dem Radsport miserabel. Selten war das so augenfällig wie in den letzten Wochen.
Ausgerechnet die Mannschaft Jumbo-Visma, die 2023 mit drei verschiedenen Fahrern den Giro d’Italia, die Tour de France und die Vuelta gewann, kämpfte in der Rennpause um ihre Existenz. Denn die Supermarktkette Jumbo entschied trotz der spektakulären Erfolgsserie, dass das Sponsoring mittelfristig eingestellt wird. Ein erhoffter Deal mit Amazon platzte.
In ihrer Not zogen die Niederländer eine Fusion mit dem belgischen Erzrivalen Quick-Step in Betracht. Auch diese Idee scheiterte. Und dass sie überhaupt aufkam, illustriert die prekäre Situation: Es war, als hätte Manchester City nach dem Gewinn von Champions League, Meisterschaft und Cup zur eigenen Rettung einen Zusammenschluss mit dem FC Liverpool erwogen.
Three Grand Tour wins from three in 2023 for Team Jumbo-Visma 🇫🇷🇪🇸🇮🇹
Jonas Vingegaard, Sepp Kuss and Primoz Roglic show off their Tour de France, Vuelta a España and Giro d’Italia winners› jerseys.
📸 Cor Vos
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🇪🇸 #LaVuelta23 pic.twitter.com/8LIbH5bRUD— Velon CC (@VelonCC) September 17, 2023
Red Bull kann grosse Erfolge in der Formel 1 und im Fussball vorweisen
Das systemische Problem des Radsports ist einfach auf den Punkt zu bringen. Anders als im Fussball werden die Teams von den Veranstaltern nicht an den Fernseh- und Werbeeinnahmen beteiligt. Wer eine Mannschaft konkurrenzfähig machen will, muss eigenes Geld auf den Tisch legen. Allzu oft erscheint das nur kurzfristig attraktiv. Firmen kommen und gehen, und im Peloton herrscht permanent Unruhe: Sobald eine Marketingabteilung eine Neupositionierung prüft, sind Dutzende Arbeitsplätze in Gefahr.
Das Schicksal ganzer Teams hängt von der Aufopferungsbereitschaft einzelner Personen ab, so wie das einst bei BMC mit dem Patron Andy Rihs war. Als er verstarb, verschwand die erfolgreiche Mannschaft. Immer häufiger füllen staatsnahe Vehikel aus dem Nahen Osten entstehende Lücken, um politische Imagepflege zu betreiben.
Es könnte eine Trendwende einleiten, wenn wieder einmal ein Unternehmen mit internationaler Strahlkraft beweisen würde, wie sehr sich eine Investition in den Radsport eben doch lohnen kann. Denn eigentlich ist die Relation zwischen finanziellem Aufwand und erzielter globaler Aufmerksamkeit geradezu sensationell.
Vor allem deswegen elektrisierten vor wenigen Tagen die durchgesickerten Pläne von Red Bull, beim deutschen Team Bora einzusteigen, die Szene. Der Getränkekonzern hat sich mit seinen Weltmeistertiteln in der Formel 1, seinem aufstrebenden Fussball-Konglomerat und seiner Vermarktung erfolgreicher Einzelathleten den Ruf erworben, das Sportgeschäft perfekt zu beherrschen.
Es heisst gern: Wenn es eine Firma verstehe, Erfolge nicht nur zu erreichen, sondern auch so zu zelebrieren, dass neue Zielgruppen angesprochen würden, dann sei es Red Bull. Zumal der Konzern im Sport keineswegs nur mit Geld um sich wirft, sondern auch viel Energie darauf verwendet, Talente frühzeitig aufzuspüren und langfristig zu fördern. Eines der besten Beispiele dafür ist der Skirennfahrer Marco Odermatt, der schon lange vor seinem internationalen Durchbruch unter Vertrag genommen wurde.
Bisher hatte Red Bull individuelle Verträge mit einzelnen Radprofis: Wout van Aert, Tom Pidcock, Anton Palzer, Kata Blanka Vas. Mit Bora bestand zudem bereits eine Kooperation in der Talentsichtung. Jetzt möchte Red Bull bei der Equipe des Managers Ralph Denk nicht nur als Sponsor einsteigen, sondern 51 Prozent von dessen Betreibergesellschaft übernehmen. Was bedeutet: Das angestrebte Engagement ist aller Voraussicht nach langfristig angelegt. Noch prüft die österreichische Bundeswettbewerbsbehörde den Deal. Die finale Bestätigung wird für den 26. Januar erwartet.
Kommt es zur Vereinigung der belgischen Stars van Aert und Evenepoel?
Interview-Anfragen zum Thema lehnt Red Bull routiniert ab. Für den Konzern, der seine eigenen Publikationskanäle betreibt, haben Auftritte in unabhängigen Medien keine Bedeutung. Doch die Ambitionen sind gross. Am Rande des Trainingslagers der Fussballer von RB Leipzig liess der Red-Bull-Geschäftsführer Oliver Mintzlaff gemäss der Deutschen Presse-Agentur (DPA) durchblicken, dass man ab 2025 das Kader des Radteams umbauen werde. Das Ziel sei – natürlich – der Sieg an der Tour de France.
Im gleichen Text platzierte die DPA ohne Quellenangabe die Information, die Verantwortlichen hätten bereits die Fühler nach Wout van Aert (Jumbo-Visma) und Remco Evenepoel (Quick-Step) ausgestreckt. Ob die beiden belgischen Stars tatsächlich ins gleiche Team wechseln, ist allerdings ungewiss, umso mehr, weil sie sich bei Auftritten mit ihrem Nationalteam zeitweise überhaupt nicht gut verstanden. Womöglich bekäme Bora mit van Aert und Evenepoel ein Starensemble, das Reminiszenzen an den Fussballklub Paris Saint-Germain weckte: illuster, aber im entscheidenden Moment ohne Fortüne, weil zu viele Einzelinteressen im Spiel sind.
Doch vor allem die Verpflichtung van Aerts, der in mehreren Disziplinen zur Weltspitze gehört, hätte wegen seines individuellen Vertrags mit Red Bull eine Logik. Unlängst wechselte sein bisheriger Trainer Marc Lamberts zu Bora. Dieser folgte dem Klassement-Fahrer Primoz Roglic, der wie van Aert für Jumbo-Visma fuhr. Roglic wiederum würde das Ziel, an der Tour de France zu triumphieren, nur zu gerne bereits 2024 erreichen.
Imageprobleme – vor allem in Deutschland
Für den Teamgründer Denk ist die Kooperation mit Red Bull ein Einschnitt. Er begann 2010 mit bescheidenen Mitteln. Und bisher gelang es seiner Equipe, die von den beiden Mittelständlern Bora und Hansgrohe alimentiert wird, sich als Aussenseiter zu inszenieren, selbst in der Ära des dreifachen Weltmeisters Peter Sagan. Wenn Red Bull dabei ist, wird das nicht mehr möglich sein.
Vor allem bei deutschen Sportanhängern ist der Getränkekonzern unbeliebt. Fussballfans werfen Red Bull vor, bei der Unterstützung von RB Leipzig mit umstrittenen Tricks die «50+1-Regel» ausgehebelt zu haben. Diese soll verhindern, dass Unternehmen die komplette Kontrolle über Klubs erlangen. Ralph Denk dürfte bewusst sein: Eigentlich hätte ein Tour-de-France-Sieg das Potenzial, in seiner Heimat Deutschland eine Radsport-Euphorie auszulösen. Doch mit Red Bull ist ihm die Gunst der Fans nicht garantiert.
Keinesfalls sollten sich zu irgendeinem Zeitpunkt Dopinggerüchte verbreiten. Das Image von Red Bull litt jahrelang darunter, dass es die Leitung des firmeneigenen Diagnostik- und Trainingszentrums 2003 ausgerechnet dem Mediziner Bernd Pansold anvertraut hatte. Pansold war einst zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil als erwiesen gilt, dass er in der DDR minderjährigen Schwimmerinnen anabole Steroide verabreichte. Erst 2019 schied Pansold aus.
Der verstorbene Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz hatte die Vergangenheit des Mediziners im sozialistischen Sportsystem als «Schnee von gestern» abgetan. Eine solche Nonchalance dürfen sich seine Nachfolger im sensibilisierten Radsport-Umfeld nicht leisten.
Einiges beginnt sich in diesem nun zu verschieben. 2023 war Jumbo-Visma das Mass der Dinge. 2024 ist diese Equipe unter dem Namen «Visma-Lease a Bike» unterwegs, was eher provinziell tönt, wie eine Mischung aus Optikergeschäft und lokalem Fahrradverleih. Und spätestens ab 2025 könnte ihr von Bora und Red Bull der Rang abgelaufen werden.
Doch selbst die Konkurrenz sollte froh sein, wenn die ambitionierten Pläne dieser deutsch-österreichischen Allianz aufgehen. Denn womöglich könnte dies zögernde Konzerne wie Amazon animieren, doch noch bei einem Radteam einzusteigen. Sollte aber sogar Red Bull scheitern, sähe es für den Radsport düster aus.