Zurück auf Feld eins: Die Staatsanwaltschaft muss ihre Anklageschrift im Fall Vincenz überarbeiten. Der Zürcher Rechtsanwalt Duri Bonin sieht darin vor allem einen Nachteil für die Beschuldigten.
Herr Bonin, Sie sind von Beruf Strafverteidiger, betreiben aber nebenbei einen vielbeachteten Podcast und haben den Fall Vincenz Anfang 2022 aus dem Gerichtssaal verfolgt. Wie fanden Sie überhaupt Zeit dafür?
Mit meinem Anwaltskollegen spreche ich im Podcast regelmässig über strafprozessuale Fragen. Wir fanden, der Vincenz-Prozess würde sich gut zur Veranschaulichung dieser komplizierten Materie eignen. Anfänglich sind wir davon ausgegangen, dass die Gerichtsverhandlung drei oder vier Tage dauern werde. Wir dachten, wir sitzen im Bezirksgericht, hören mit einem Ohr zu und arbeiten am Laptop weiter. Am Ende wurden es acht Verhandlungstage . . .
. . . und Sie sind zwischendurch sogar aus dem Gerichtssaal geflogen.
Ja, uns wurde beschieden, wie dürften als Zuschauer nicht mit dem Laptop arbeiten. Eine sitzungspolizeiliche Anweisung, welche ich nicht zu akzeptieren bereit war. Ich wurde dann polizeilich aus dem Saal geleitet.
Ausser Spesen nichts gewesen: Das Zürcher Obergericht hat das Urteil des Bezirksgerichts gegen Vincenz und seine Mitangeklagten wieder aufgehoben, wie am Mittwoch bekanntwurde. Der Fall geht zurück an die Staatsanwaltschaft. Wie sehr hat Sie der Entscheid des Zürcher Obergerichts überrascht?
Es gab Anzeichen, dass es zu einer Rückweisung kommen könnte. Aber so richtig glauben konnte ich es nicht. Es kommt höchst selten vor, dass die zweite Gerichtsinstanz ein Urteil zurückweist – und dann auch noch direkt an die Staatsanwaltschaft. Noch mehr gestaunt habe ich, als ich die Begründung gelesen habe: Das Obergericht kritisierte die mangelnde Verständlichkeit der Anklageschrift und die Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen der fehlenden Übersetzung der Anklage für einen der Beschuldigten.
Für juristische Laien ist es schwer nachvollziehbar, weshalb eine Anklageschrift zu detailliert sein kann.
Die Angeklagten müssen genau wissen, was ihnen vorgeworfen wird. Wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt, muss sie klipp und klar sagen können, was die Vorwürfe sind. Je unbestimmter, weitschweifiger und beliebiger die Anklageschrift ist, desto schwieriger ist es, sich wirkungsvoll zu verteidigen. Bildlich gesprochen, darf es nicht sein, dass die Beschuldigten in einer mehrere hundert Seiten langen Anklageschrift vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen können und damit gar nicht wissen, was ihnen genau vorgeworfen wird.
Die Rückweisung ist denn auch eine Blamage für die grösste Staatsanwaltschaft der Schweiz, die im Fall Vincenz offensichtlich eine formal ungenügende Anklageschrift erstellt hat.
Das mag vielleicht auf den ersten Blick so scheinen, aber ich sehe das nicht so. Denn zumindest die rechtlichen Konsequenzen sind für die Staatsanwaltschaft nicht schlimm, im Gegenteil. Wahrscheinlich wollte sie es in diesem prominenten Fall besonders gut machen und ist dabei ausgeufert. Sie hat die Anklageschrift mit zu ausführlichen Darstellungen und Erörterungen überladen. Das rückt die Anklage in die Nähe einer unzulässigen Begründung. Immerhin aber hat ein erstinstanzliches Gericht mit drei erfahrenen Richtern die Anklage als genügend angesehen.
Nach aussen ist es für die Staatsanwaltschaft dennoch eine klare Niederlage.
Wie gesagt, das sehe ich nicht so. Die Staatsanwaltschaft bekommt mit der Rückweisung die Chance, nochmals neu Anklage zu erheben. Dabei kennt sie nun die Argumente der Verteidigungen bis ins Detail und hat jetzt eine über tausendseitige Anleitung mit dem aufgehobenen Urteil des Bezirksgerichts Zürich. Das Überraschungselement, welches normalerweise auf der Seite der Verteidigung liegt, fällt weg. Die Rückweisung des Urteils kann sich daher als Pyrrhussieg für Pierin Vincenz erweisen.
Als weiteren Grund für die Rückweisung nannte das Obergericht die fehlende Übersetzung der Anklageschrift für Stéphane Barbier-Mueller, einen der reichsten Schweizer, der sich locker eine Armee von Übersetzern leisten könnte. Ist das nachvollziehbar?
Die Strafprozessordnung sagt, dass die wichtigsten Verfahrenshandlungen für fremdsprachige Beschuldigte übersetzt werden müssen. Das ist eine Bringschuld des Staates und kann nicht an den Beschuldigten oder dessen Verteidigung delegiert werden. Ob der Mangel derart gravierend ist, dass man das Urteil zurückweisen muss, diskutiert das Obergericht in seinem Beschluss auf mehreren Seiten. Die Meinungen zu dieser Frage gehen auseinander.
Das Fazit der jüngsten Entwicklung im Fall Vincenz ist letztlich: Gegen Wirtschaftskriminelle kann man in der Schweiz kaum vorgehen. Ihre Delikte sind so komplex, dass die Gerichte nicht dagegen ankommen.
Für diese Schlussfolgerung ist es noch deutlich zu früh. Es sind nach Ansicht des Obergerichts prozessuale Fehler passiert. Die werden nun korrigiert. Nicht mehr, nicht weniger.
Für den Rechtsstaat ist die Verzögerung aber kein gutes Signal.
Doch, es ist der Beweis, dass der Rechtsstaat funktioniert. Wenn das Obergericht trotz Bedenken die Sache durchgewinkt hätte, dann wäre das kein gutes Zeichen.
Für Vincenz und die Angeklagten heisst die Rückweisung auch, dass sich das Verfahren um mehrere Jahre verlängern wird. Wird sich das strafmildernd auswirken?
Ja, das wird sich strafmildernd auswirken. Das muss so sein. Die Beschuldigten leben nun noch länger mit dem Damoklesschwert einer mehrjährigen Gefängnisstrafe. Aus psychologischer Sicht ist das schon krass. Manche Leute haben schon bei einer Mahnung schlaflose Nächte. Die Rückweisung dürfte bei den Beschuldigten nur kurz für Erleichterung sorgen.
Die Zürcher Staatsanwälte fechten die Rückweisung des Vincenz-Urteils des Obergerichts vor Bundesgericht an. Was versprechen sie sich davon?
Die Staatsanwaltschaft handelt in meinen Augen taktisch klug, wenn sie die Sache ans Bundesgericht trägt. Das Risiko ist zwar hoch, dass das Bundesgericht nicht auf diese Beschwerde eintreten wird. Ein solches Ergebnis wäre aber nicht als Niederlage für die Staatsanwaltschaft zu betrachten: Es würde bedeuten, dass das Bundesgericht der Meinung ist, dass die Strafsache nicht verjähren kann.
Ist es nicht irritierend, dass ein Delikt nicht mehr verjähren kann, weil die Staatsanwaltschaft schlecht gearbeitet hat?
Ja, das ist stossend. Zugespitzt könnte man sagen: Die Staatsanwaltschaft wird für schlechte Arbeit mit einem Verjährungsstopp belohnt. Das könnte falsche Anreize schaffen.
Die mangelnde Effizienz der Strafjustiz steht generell in der Kritik. Teilen Sie diese?
In meinen Augen ist es in erster Linie eine Ressourcenfrage. In den Strafkammern des Zürcher Obergerichts oder am Bundesgericht ist die Geschäftslast für die Anzahl Richter zu hoch. In der Konsequenz kann das zu einer Gerichtsschreiberjustiz führen, weil den Ober- oder Bundesrichtern die Zeit fehlt, sich hinreichend in die Fälle zu vertiefen. Das ist eine wichtige Debatte, die man führen sollte.
Könnte künstliche Intelligenz Strafuntersuchungen wie im Fall Vincenz in Zukunft beschleunigen?
Ja. Mit künstlicher Intelligenz lassen sich beispielsweise Tausende E-Mails in Sekundenbruchteilen auswerten. Das wird den Strafverfolgern einen riesigen Hebel in die Hände legen, gerade in hochkomplexen Verfahren.