Am Freitag wählen die Delegierten des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) ein neues Präsidium. Zur Wahl steht ein Mitglied der Geschäftsleitung der SBB-Immobiliensparte, wie Recherchen der NZZ zeigen. Es ist ein Ausdruck der engen Beziehungen zwischen dem Branchenverband und den Bundesbahnen.
Die Stimmung im grössten Verband der Schweizer Baubranche war schon besser. Der letzte Präsident des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), der Thurgauer Peter Dransfeld, trat im Dezember 2022 nach nur zwanzig Monaten unter ungeklärten Umständen zurück. Seither wird der Verband interimistisch von den beiden Vizepräsidenten geleitet.
Eine interne Spezialkommission hat die Vorgänge untersucht, die zu Dransfelds Abgang geführt haben. Der Schlussbericht der Kommission wird jedoch bis heute unter Verschluss gehalten. In einem offenen Brief forderten mehrere Mitunterzeichner Dransfelds Wiedereinsetzung. Dransfeld selbst warf dem SIA-Vorstand und der Geschäftsleitung vor, ihm die Ausübung des Amtes mit Absicht erschwert oder gar verunmöglicht zu haben.
In diesem schwierigen Klima wählen die 76 SIA-Delegierten am 26. April ein neues Präsidium. Als einzige Person zur Wahl vorgeschlagen ist Susanne Zenker, wie mehrere Quellen gegenüber der NZZ bestätigen. Zenker ist seit 2019 Geschäftsleitungsmitglied der SBB-Immobiliensparte. Ihre Wahl gilt als Formsache.
Konflikt mit Compliance-Richtlinien
Ausserhalb der Immobilienbranche ist Zenker kaum bekannt. Zuletzt tauchte ihr Name im Zusammenhang mit der Verschärfung der Compliance-Richtlinien der SBB auf. Zenker wollte sich 2021 in den Verwaltungsrat des Basler Immobilienunternehmens Hiag wählen lassen. Sie musste aber ihre Zusage wieder zurückziehen, weil die Wahl in Konflikt mit den neuen Richtlinien stand, die unter dem neuen SBB-Chef Vincent Ducrot eingeführt worden waren. Zuvor war bekanntgeworden, dass ein SBB-Kadermann bei einer externen Firma im Verwaltungsrat sass, die von den SBB lukrative Aufträge erhielt.
Zenker dürfte deshalb genau abgeklärt haben, ob das SIA-Präsidium mit ihrer Position in der SBB-Immobiliensparte vereinbar ist. Als Unternehmen der öffentlichen Hand unterliegen die SBB dem Beschaffungsrecht und haben als Grundversorger einen gesetzlichen Auftrag. Als Präsidentin des SIA wird sie künftig unzählige KMU vertreten, die sich um Aufträge der SBB bemühen.
Beim SIA-Verbandspräsidium handelt es sich um ein unbezahltes Amt. Der Verhaltenskodex der SBB umfasst zwar Vorgaben zu Interessenkonflikten, Auftragsvergabe, Wettbewerbsrecht und weiteren Punkten. Er lässt aber offen, inwieweit Verbandstätigkeiten mit einer Kaderposition vereinbar sind. Die SBB-Medienstelle wollte sich auf Anfrage nicht konkret dazu äussern. Man werde aber zusammen mit Zenker «sicherstellen, dass der Code of Conduct eingehalten wird». Zenker selbst wollte vor der Wahl keine Stellung nehmen.
Aufseiten des SIA sind die Compliance-Regeln eher allgemein formuliert. Die Mitglieder des Vorstands sind verpflichtet, mögliche Interessenkonflikte offenzulegen und «die Regeln des fairen Wettbewerbs» einzuhalten.
Sicher ist, dass das SIA-Präsidium mit beträchtlichem Aufwand verbunden ist. Der Verband mit seinen 16 000 Mitgliedern und 200 Kommissionen ist ein zentraler Akteur der Baubranche. Er vertritt sämtliche wichtigen Berufsgruppen – von den Umweltfachleuten über die Raumplaner bis zu den Geologen – und greift mit seinen Normen und Ordnungen in alle Bereiche des Bauwesens.
Institutionalisierte Gespräche zwischen SBB und SIA
Zenker, Jahrgang 1970, arbeitet seit 2013 bei den SBB. Seit ihrer Wahl in die Geschäftsleitung leitet sie die Abteilung Development. Zuvor arbeitete sie in Architekturbüros in London und Zürich und bei einem Immobiliendienstleister in Zürich und Lausanne. Seit 2020 vertritt sie die SBB in der Stiftung Baukultur Schweiz. 2021 wurde sie vom Magazin «Immobilien Business» zu den 100 wichtigsten Köpfen der Schweizer Immobilienbranche gezählt.
Dass ein Kadermitglied der SBB-Immobiliensparte an die Spitze des SIA gewählt werden soll, kommt für Branchenkenner nicht überraschend. Die Verbandsspitze pflegt seit Jahren einen engen Kontakt zu den SBB. Seit 2014 trifft sich der SIA-Vorstand zweimal jährlich zu Gesprächen mit Führungsleuten von SBB Immobilien. Am Tisch sitzt jeweils auch die Leitung der Abteilung Development, also jener von Susanne Zenker.
Wie eng die Verbindungen zwischen den SBB und dem SIA sind, zeigte sich insbesondere unter dem SIA-Präsidenten Stefan Cadosch, der den Verband von 2011 bis 2021 führte. Wenige Monate vor seinem Rücktritt gründete Cadosch zusammen mit Jürg Stöckli in Zürich eine Immobilienfirma. Stöckli war bis 2019 Leiter der Division Immobilien und Mitglied der SBB-Konzernleitung.
Unter Stöckli ist die Immobiliensparte der SBB stark gewachsen. Heute gehören die SBB zu den grossen drei der Branche – neben dem Versicherungskonzern Swiss Life als unbestrittener Nummer eins und der grössten börsenkotierten Schweizer Immobilienfirma, Swiss Prime Site. 2023 erwirtschafteten die SBB mit ihren Immobilien rund eine Milliarde Franken Umsatz. Die Sparte leistete damit einen entscheidenden Beitrag, dass der Konzern erstmals seit 2019 wieder schwarze Zahlen schrieb.
Offen bleibt, wie Zenker den SIA für die Zukunft positionieren will. Der über 180-jährige Verband hat mit seinen historisch gewachsenen Strukturen einen enormen Einfluss auf die Baubranche, gilt aber auch als reformbedürftig.
Seit Jahren arbeitet der SIA unter anderem an einer Revision der Leistungs- und Honorarordnung. Das Grossprojekt beschäftigt den Verband bereits mehr als zehn Jahre. Nach einer früheren Revision rief die Ordnung im Jahr 2018 die Wettbewerbskommission des Bundes auf den Plan, worauf sich der SIA zu einer erneuten Überarbeitung gezwungen sah.