Lokale Behörden in China wollen es wissen, wenn Staatsangestellte das Land verlassen. Lehrer oder Uni-Dozenten sind nun vermehrt von den Restriktionen betroffen. Was steckt dahinter?
China erhöht die Hürden für Auslandreisen. Immer mehr Staatsangestellte müssten ihre Pässe abgeben, zum Beispiel Primarschullehrer verschiedener Provinzen, berichtete die «Financial Times» vergangene Woche. Sobald sie das Land verlassen wollen, müssen sie beim Personalbüro einen Antrag stellen.
Nicht alle sind betroffen. Eine Deutschlehrerin an einer Pekinger Universität sagt auf Anfrage, dass sie noch nie von dieser Regel gehört habe. Doch unweit von Peking, an einer Universität der Provinz Hebei, sieht es anders aus: Irene Huang arbeitet dort als Englisch-Dozentin. Sie sagt, ihr Pass liege beim Personalbüro, seit sie die Stelle vor zwei Jahren angetreten habe. «Das bedeutet nicht, dass wir nicht ins Ausland reisen können», erklärt Huang. «Wir müssen ein Formular ausfüllen und den Grund angeben, weshalb wir den Pass benötigen, sowie unsere Reisedaten.» In der Regel erhielten sie ihren Reisepass ohne weitere Probleme ausgehändigt.
Huang weiss nicht, warum diese Restriktionen gelten. Sie spekuliert: Einerseits habe das Personalbüro so den Überblick darüber, welche Uni-Angestellten wertvolle Auslanderfahrung vorweisen könnten. Andererseits dürfte es auch eine Art Risikomanagement sein, um zu verhindern, dass Universitätsangestellte vertrauliche Informationen aushändigten, wie zum Beispiel Forschungsergebnisse.
Geht es um nationale Sicherheit?
Schon seit 2003 erlaubt ein landesweites Gesetz, dass lokale Behörden eigene Regeln für Auslandreisen von Staatsangestellten festlegen. Das fällt zeitlich mit dem erhöhten Fokus auf nationale Sicherheit der Staatsführung in Peking zusammen. Unter dem Partei- und Staatschef Xi Jinping ist eine Reihe von Gesetzen entstanden, die die nationale Sicherheit in allen Bereichen priorisieren: von der Wirtschaft über die Gesellschaft, die Wissenschaft und die Technologie bis zum Militär. Damit will sich die Staatsführung gegen den erhöhten Druck der USA wappnen, aber auch die Herrschaft der Partei festigen, um innenpolitischen Herausforderungen zu begegnen.
Für hochrangige Staatsbeamte gelten strikte Regeln für Reisen ins Ausland. Auch Bankangestellte sind betroffen – dies wohl aus dem Grund, weil die Behörden befürchten, dass sie hohe Geldsummen ins Ausland schaffen könnten. Neu scheint zu sein, dass seit vergangenem Jahr nun auch immer mehr Angestellte im Bildungssektor ihre Pässe abgeben müssen.
Im August vergangenen Jahres schrieb ein Lehrer einen Blogbeitrag zum Thema. «Die Schule hat mir neulich eine Nachricht geschickt mit der Aufforderung, meinen Pass abzugeben», schrieb er. Er habe sich wilde Gedanken gemacht – wie könnte er sich als einfacher Lehrer eine Auslandreise überhaupt leisten? Er spreche kaum Englisch. Ausserdem habe er keine Kontakte zu wichtigen Organisationen oder Personen, die heikle Informationen mit ihm teilen könnten. «Ich liebe meinen Heimatort, mein Land und die chinesische Zivilisation», bekräftigte er. Er besitze nicht einmal einen Reisepass, schrieb er zum Schluss, und setzte ein paar Emoticons dahinter, Gesichter, die Tränen lachen.
Immer mehr Chinesen wollen auswandern
In China haben nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung einen Reisepass. Die Reisefreiheit kam schrittweise mit der Öffnung des Landes ab den achtziger Jahren, aber leisten konnten sich die meisten eine Auslandreise erst ab den frühen nuller Jahren. Während der Corona-Pandemie schränkte China die Möglichkeit der Bürger, ins Ausland zu reisen, wieder stark ein und stellte zeitweise keine neuen Reisepässe mehr aus. Ethnische Minderheiten und Dissidenten in China kennen diese Zustände bereits seit vielen Jahren. Tibetern oder Uiguren beispielsweise wird das Verlassen des Landes stark erschwert.
Gleichzeitig wollen aber seit der Pandemie immer mehr Chinesinnen und Chinesen auswandern. Chinesen stellen mittlerweile die am schnellsten wachsende Gruppe illegal Einwandernder, die via Mexiko in die USA reisen, dar. Gutgebildete – wie Lehrer – versuchen die Emigration über den legalen Weg, ein Studium oder ein Doktorat im Ausland. Die neuen Reiseauflagen könnten also auch ein Versuch sein, Staatsangestellte davon abzuhalten, das Land definitiv zu verlassen.
«Patriotische Bildung»
Jüngst kochte das Thema im chinesischen Internet nochmals hoch. In einem Beitrag auf der Nachrichtenplattform Toutiao argumentiert der Autor, es gehe darum, die Interessen des Staats zum Schutz der nationalen Sicherheit und die Rechte und Freiheiten Einzelner ins Gleichgewicht zu bringen. Die Kommentare unter dem Artikel sind weniger sachlich.
«Ich bin eine gewöhnliche Kindergarten-Lehrerin», schreibt eine Kommentatorin aus der Inneren Mongolei. «Ich bin unbrauchbar als Spionin, denn ich weiss nur, was in unserem Klassenzimmer stattfindet. Was soll ich sonst wissen?» Ein Benutzer aus der Stadt Langfang in der Provinz Hebei schreibt, er habe Verständnis für die Regeln, wenn sie für Personen gälten, die mit vertraulichen Daten arbeiteten. «Aber für uns kleine Fische ist es unnötig.»
Ein dritter anonymer Nutzer wird noch direkter: «Was, wenn ich etwas anderes sehe, wenn ich das Land verlasse? Dann wären ja all die Jahre politischer Unterricht für die Katz gewesen.» Mit «etwas anderem» meint er wohl: etwas anderes als die Staatspropaganda, die das Ausland oft als gefährliche, chaotische und ungerechte Welt darstellt.
Der letzte Kommentar spricht einen wichtigen Punkt an. Denn hinter den neuen Reisebeschränkungen dürfte tatsächlich mehr stecken als Sicherheitsbedenken. Unter Xi Jinping hat Peking die Kampagne für patriotische Bildung verstärkt. Vergangenes Jahr ist ein revidiertes Gesetz dazu verabschiedet worden. Es sieht vor, die Liebe zum Vaterland und zur Partei schon sehr früh zu verankern. Xi Jinpings Interpretation des Marxismus und seine Reden sind seit 2021 Teil des Lehrplans ab der Primarschule bis zur Universität. Das Ziel des politischen Unterrichts ist, die nationale Einheit zu stärken. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit erhofft sich die Parteiführung davon mehr soziale Stabilität.
Lehrer haben es in der Hand, wie effektiv die «patriotische Bildung» ist. Eine Auslandreise beeinflusst möglicherweise das Bild, das sich die Lehrkräfte von anderen Ländern und vom eigenen System machen könnten – es könnte dazu führen, dass sie Staatspropaganda infrage stellen und dann weniger überzeugend unterrichten. Oder dass sie die Schulkinder mit Ideen aus dem Westen bekanntmachen.
Solche Ideen findet Xi Jinping brandgefährlich. Wenige Monate nachdem er Ende 2012 an die Macht gekommen war, wurde ein geheimes Dokument der Presse zugespielt: der neunte Bericht des Zentralkomitees. Das «Dokument Nr. 9» erklärte rechtsstaatliche Demokratie, universelle Werte oder die Zivilgesellschaft zu «falschen» Ideologien. Immer wieder betonte Xi Jinping, die Chinesen müssten mehr Selbstvertrauen in die eigene Kultur haben, statt die westliche Kultur «anzubeten». Es ist also denkbar, dass Schul- und Universitätsbehörden deswegen die Auslandreisen von Lehrern kontrollieren wollen: um zu verhindern, dass zu viel westliches Gedankengut zu den Schülern gelangt.