Die australische Regierung will Jugendliche vor Instagram und Tiktok schützen, um ihre psychische Gesundheit zu stärken. Aber Jugendliche müssen einen gesunden Umgang mit Medien früher lernen.
2024 ist ein gutes Jahr für Jonathan Haidt. Der Psychologe veröffentlichte ein Buch, das um die Welt ging und seither die Diskussionen rund um die Smartphone-Nutzung von Kindern und Jugendlichen prägt. Es heisst «Generation Angst». Der Untertitel spielt vor allem mit den Ängsten besorgter Mütter und Väter: «Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen.»
Als besonders gefährlich erachtet Haidt soziale Netzwerke. Er plädiert dafür, Jugendlichen erst ab frühestens 16 Jahren zu erlauben, Instagram, Tiktok und Co. zu nutzen. Und vor wenigen Tagen erzielte seine Stimmungsmache einen für ihn grossen Erfolg. Die australische Regierung beschloss, Jugendlichen erst ab 16 Jahren die Nutzung sozialer Netzwerke zu erlauben. Man wolle damit ihre psychische Gesundheit schützen. Doch es ist aus mehreren Gründen ein Fehler, Haidts rigorosem Kurs zu folgen.
Allem voran: Das Schreckensszenario von Jonathan Haidt, der übrigens weder Kinder- noch Medienpsychologe ist, ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. In diesem Jahr ist eine Übersichtsarbeit erschienen, in der die vorhandenen wissenschaftlichen Studien zum Thema psychische Gesundheit und soziale Netzwerke ausgewertet wurden. Es gibt darin keine Hinweise, dass soziale Netzwerke verantwortlich sind für etwaige psychische Probleme ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Jonathan Haidt stellt also nicht die komplexe Realität dar.
Schweizer Jugendliche haben einen reflektierten Umgang mit dem Internet
Kurz nachdem die australische Regierung ihre neue Regelung kommuniziert hat, erschien in der Schweiz die James-Studie. Das Projekt läuft seit 2010, alle zwei Jahre werden 12- bis 19-jährige Jugendliche aus der ganzen Schweiz befragt, welche Medien sie nutzen, wie sie das tun und was sie sonst in ihrer Freizeit machen. Die Jugendlichen sind nicht in der virtuellen Welt verlorengegangen, wie es Jonathan Haidt befürchtet. Am liebsten treiben sie in ihrer Freizeit Sport und treffen sich mit Freunden.
Mit ihrem Smartphone sind sie natürlich auch viel beschäftigt. Fast alle 12- bis 19-Jährigen (98 Prozent) haben eines. Sie nutzen das Gerät etwa drei Stunden pro Tag, am Wochenende sind es vier Stunden. Soziale Netzwerke wie Instagram und Tiktok gehören zu ihrem Alltag. Sie verwenden diese Netzwerke aber nicht intensiver als bei der letzten Befragung vor zwei Jahren. Laut dem Forschungsteam stagniert die Nutzung, womöglich habe sie ihr Maximum erreicht und sich eingependelt. Insgesamt, so die Bilanz, haben die jungen Menschen einen reflektierten Umgang mit dem Internet. Und genau darauf kommt es ja auch an.
Einen reflektierten Umgang mit sozialen Netzwerken muss man aber lernen – und hier sind die Eltern in der Pflicht. Psychologen betonen, dass Eltern beim Thema Smartphone keine grundsätzlichen Verbote aussprechen sollten, sondern Kinder ihrem aktuellen Entwicklungsstand entsprechend schrittweise an das Internet heranführen sollten. Wichtig ist es, im Dialog mit dem eigenen Kind zu bleiben, sich auf seine Lebenswelt einzulassen, verstehen zu wollen, was dem jungen Menschen wichtig ist.
Mit dieser Grundhaltung kann man ins Gespräch kommen und das Kind beim Umgang mit dem Smartphone unterstützen. Solch ein Dialog gelingt eher, wenn das Kind jünger als 16 Jahre alt ist und sich noch weniger stark von den Eltern abgrenzen möchte. Deshalb ist das Mindestalter von 13 Jahren sinnvoller, das die meisten sozialen Netzwerke ohnehin schon von ihren Nutzern fordern. Mit 16 hingegen befindet sich das Kind mitten im Ablösungsprozess von den Eltern und will womöglich keine medienpädagogischen Gespräche mehr.
Eltern sollten sich daher von der Haidtschen Panikmache nicht anstecken lassen – und Regierungen wie die australische ebenso wenig. Jugendliche brauchen echte Medienerziehung und keine überzogenen Verbote.