Bei einem der Prozesse gegen die mutmasslichen Verschwörer nimmt es die deutsche Polizei mit den Grundrechten der Angeklagten laut den Anwälten nicht sehr genau.
Im Dezember 2022 nahmen 3000 Ermittlungsbeamte, darunter Angehörige der Polizei-Elitetruppe GSG 9, 26 Personen fest und durchsuchten Häuser, Wohnungen und Büros in elf deutschen Bundesländern. Der Vorwurf gegen die Festgenommenen lautete: Sie seien sogenannte «Reichsbürger», hätten eine terroristische Vereinigung gegründet, einen gewaltsamen politischen Umsturz geplant und dafür auch Tote in Kauf genommen.
Die sozialdemokratische Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach damals von einem «Abgrund terroristischer Bedrohung», der sich in Deutschland aufgetan habe. Viele Medien orientieren sich seither an dieser dramatischen Einordnung.
Wegen der grossen Zahl von Beschuldigten wurde das Verfahren gegen die Verdächtigen aufgespalten. Verhandelt wird seit Ende Mai 2024 in Stuttgart, München und Frankfurt am Main.
Eigentlich darf die Untersuchungshaft laut deutscher Strafprozessordnung nicht länger als sechs Monate dauern. Bei grossen und komplizierten Prozessen wie dem gegenwärtigen Reichsbürger-Verfahren, in denen viele Zeugen gehört und viele Beweismittel ausgewertet werden müssen, kann sie aber nach gerichtlicher Prüfung verlängert werden. Das gilt insbesondere dann, wenn mit einer schweren Strafe zu rechnen ist. Im konkreten Fall befinden sich die Angeklagten seit 18 Monaten im Gefängnis. Das ist ein erheblicher Grundrechtseingriff.
Umsturzpläne und Esoterik
Die Vorwürfe gegen die Verhafteten sind ebenfalls erheblich. Laut Anklage hatten die mutmasslichen Verschwörer einen «militärischen Arm» ihrer Organisation gegründet. Sie besassen Waffen und Geld. Sie hatten wohl über einen Sturm auf den Reichstag gesprochen – und Mitglieder einer Ersatzregierung benannt, die an die Stelle der amtierenden Bundesregierung treten sollte.
Diese relativ handfesten Pläne sollen in ausgesprochen esoterische Vorstellungen eingebettet gewesen sein, zum Beispiel: Deutsche Politiker tränken in unterirdischen Stollen das Blut gefangener Kinder, um sich ewige Jugend zu sichern. Einige der Verschwörer, so berichten es Anwälte, seien davon überzeugt, Ausserirdische getroffen zu haben. Eine sogenannte «Erdallianz», bestehend aus Angehörigen fremder Mächte, werde an einem «Tag X» die deutsche Regierung beseitigen. Danach erst sollte die Ersatzregierung einspringen.
Heinrich XIII. Prinz Reuss, der angebliche Rädelsführer der Verschwörergruppe, äusserte noch in der vergangenen Woche vor Gericht in Frankfurt am Main seine Enttäuschung darüber, dass es sich bei dieser «Erdallianz» wohl um ein «trojanisches Pferd» gehandelt habe.
Das Gericht könnte sich vor diesem Hintergrund die Frage stellen, ob es sich bei den Angeklagten um eine Art Sekte handeln könnte. Und ob nicht mindestens einzelne Mitglieder des Zusammenschlusses eher einen Arzt als einen Richter benötigten. Aber da es hier um einen «Abgrund terroristischer Bedrohung» geht, auf den deutsche Anti-Terror-Gesetze aus der Zeit der mörderischen Rote-Armee-Fraktion Anwendung finden, erleben die Angeklagten die grösstmögliche Härte der Strafverfolgung.
Kontrolle der Körperöffnungen
Zusätzlich zur langen Untersuchungshaft scheint sich seit Prozessbeginn jedenfalls in Frankfurt am Main eine Praxis etabliert zu haben, die die Angeklagten nach Auskunft mehrerer Anwälte extrem belastet: Vor nahezu jedem Prozesstag müssten sie sich nackt ausziehen. Sie würden sodann abgetastet, und ihre Körperöffnungen würden kontrolliert. Vor dem Rücktransport vom improvisierten Gerichtssaal in Frankfurt Sossenheim ins Gefängnis finde dann noch einmal die gleiche Prozedur statt. Wenn das stimmt, dann wäre es auch ein Ausdruck des Misstrauens der Polizei gegenüber den Anwälten. Denn in der Verhandlung könnten nur diese den Angeklagten etwas zustecken.
Die NZZ konnte mit zwei Strafverteidigern sprechen, die diese Massnahmen nach eigenen Angaben bereits mehrfach bei Gericht kritisiert haben. Zwar seien derartige Durchsuchungen laut dem hessischen Untersuchungshaftvollzugsgesetz grundsätzlich möglich, sagt Rechtsanwalt Jochen Lober. Doch sie dürften nur im Einzelfall und in einer begründeten Gefahrensituation angewendet werden, nicht automatisch. Für die Kontrolle der Körperöffnungen müsse es immer einen konkreten Anlass geben.
Grundsätzlich komme so etwas bei Häftlingen infrage, die bekanntermassen gewalttätig seien, sagt Lober. Auf seine Mandantin, eine 59-jährige Juristin, die ohnehin extrem unter der Haftsituation leide, treffe das nicht zu. «In jedem Fall handelt es sich um eine Schikane, die darauf ausgerichtet scheint, die Angeklagten psychisch zu brechen», sagt der Anwalt.
Der Strafverteidiger Dirk Sattelmaier beschreibt die gleiche Praxis gegenüber seinem Mandanten, einem ehemaligen Polizisten. «Soweit ich weiss, sind mehr oder weniger fast alle der neun Angeklagten in Frankfurt betroffen.» Es sei absurd, wenn die Staatsanwaltschaft den Beschuldigten einerseits vorwerfe, die freiheitlich-demokratische Grundordnung beseitigen zu wollen, der Staat aber andererseits nicht auf die Verhältnismässigkeit der Mittel achte, die er anwende.
Willkür des Staates?
Denken sich hier womöglich Staatsdiener: Diesen Rechtsterroristen zeigen wir es jetzt einmal? Auszuschliessen sei das nicht, sagt Sattelmaier. Die Bundesinnenministerin habe ihre Einschätzung des Falles ja von Anfang an klargemacht.
Dass es tatsächlich zu den peinlichen Durchsuchungen kommt, dementieren weder die Bundesanwaltschaft noch das hessische Justizministerium, noch das Oberlandesgericht Frankfurt, noch die hessische Polizei. Beim Generalbundesanwalt hat man zwar keine Kenntnisse über Details, schliesst aber auf Anfrage dieser Zeitung Willkür der Vollzugskräfte kategorisch und empört aus. Das Justizministerium Hessen teilt mit, die zuständige Justizvollzugsanstalt habe zwar Kontrollen angeordnet, aber «ohne Untersuchung der Körperöffnungen».
Das Oberlandesgericht antwortet auf Anfrage, es habe keine Untersuchungen in unbekleidetem Zustand angeordnet. Man empfinde durchaus eine «Fürsorgepflicht» für die Angeklagten. «Das Gericht sieht sich hinsichtlich der Gefahreneinschätzung aber nicht als sachkundiger an als die Polizei.»
Die Polizei prüft noch
Die Polizei schliesslich gibt zu Protokoll, ihr lägen Schreiben von prozessbeteiligten Anwälten vor, die sich in einer «umfassenden rechtlichen Prüfung» befänden. Daher könne man zu dem Themenkomplex leider derzeit keine Ausführungen machen.
Interessant ist aber eine Formulierung, die ein Sprecher gegenüber dieser Zeitung am Telefon benutzt: Die Reporterin tue ja geradezu so, als seien das alles unbescholtene Bürger, sagt er. In dieser Formulierung scheint Verwunderung darüber mitzuschwingen, wie sehr man sich für die Haftbedingungen ausgerechnet dieser Angeklagten interessiere.
Doch was auch immer die mutmasslichen Reichsbürger sein mögen – dumm, wahnsinnig, böse, gefährlich –, bis zur Verkündung eines Urteils sind sie genau dies: unbescholten.







