Sich durch den urbanen Verkehr fahren zu lassen, funktioniert in Europa derzeit nur mit einem Chauffeur. In wenigen Jahren soll es aber auch ganz ohne Hände am Lenkrad klappen.
Der Mercedes bremst automatisch, hält Abstand zum Stadtbus. Später blinkt die Limousine und setzt zum Überholen an. Selbständig. Hochautomatisiert rollt der Benz durch Peking, reiht sich flüssig in den Verkehr ein, achtet bei Fussgängerüberwegen auf Passanten, die von der Seite kommen.
Das ist in Metropolen in Asien und den USA bereits möglich. In Europa aber fahren bis anhin offiziell nur wenige Fahrzeuge hochautomatisiert oder autonom, und dies nur auf der Autobahn oder mehrspurigen Schnellstrassen.
BMW bietet in der neuen 7er-Baureihe teilautomatisiertes Fahren auf Autonomiestufe 3, Mercedes hat dies bereits in einigen seiner Modelle verwirklicht. Die Systeme arbeiten bis jetzt nur auf deutschen Autobahnen oder mehrspurigen Strassen als Stauassistent und übernehmen bei bestimmten Voraussetzungen die Kontrolle des Fahrzeugs bis zu einer Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde.
«Die Sensorik für Level-3-Fahrten auf der Autobahn ist schon serienreif, wenn auch nur für einen beschränkten Einsatzbereich», sagt Markus Lienkamp, Professor am Lehrstuhl für Fahrzeugtechnik der Technischen Universität München (TUM). Denn beim Spurwechsel, bei Baustellen oder im Tunnel funktioniert das System ebenso wenig wie auf einfachen Landstrassen und bei schlechten Wetterverhältnissen wie Nebel, Schnee und Regen.
Robotaxis der Google-Tochter Waymo sind zwar über ein Versuchsstadium hinausgekommen. Aber sie fahren auch nur in amerikanischen Städten wie Phoenix, San Francisco und Los Angeles. Sie dürfen inzwischen komplett ohne Menschen am Steuer fahren – immerhin rund 50 000 Fahrten pro Woche.
Mit bis zu 60 Kilometern pro Stunde geht es im Mercedes zügig durch Peking, wo der Hersteller das System Drive Pilot für Europa weiterentwickelt. Zehn Kameras beobachten dabei den Verkehr rund ums Auto, nehmen bei jedem Meter wichtige Erkenntnisse auf und speichern sie. Dieses Deep Learning passiert nicht nur in den Testphasen, sondern soll auch beim späteren Serieneinsatz das System permanent verbessern.
Beim Abbiegen stockt die S-Klasse kurz, muss sich das Bild von parkiertem Lkw, fahrendem Motorroller und Fussgängern noch digital zusammenbauen. Doch nach zwei Sekunden setzt der Benz flüssig seine Fahrt fort.
Fünf grosse Schritte bis zum Fahren ohne Fahrer
Autohersteller stufen die Assistenzsysteme zum selbstfahrenden Auto in die Level eins bis fünf ein, nennen sie – juristisch möglichst korrekt – assistiert, teilautomatisiert, hochautomatisiert, vollautomatisiert und autonom.
Ein Auto kann erst ab Stufe 2 unter bestimmten Bedingungen selbständig lenken, bremsen und beschleunigen. Dabei muss der Fahrer jederzeit im Notfall eingreifen können, darf während der Fahrt weder die NZZ lesen noch E-Mails beantworten, Filme anschauen, chatten oder schlafen. Denn die Verantwortung bleibt die ganze Zeit beim Fahrer.
Erst bei Level 3 geht die Verantwortung unter bestimmten Bedingungen und definierten Situationen ans Fahrzeug über. In der Zeit darf sich der Pilot entspannen und sich kurzfristig vom Verkehrsgeschehen abwenden, muss allerdings innerhalb von rund zehn Sekunden eingreifen können.
Für Schläfer am Steuer bringt das System hingegen nichts. Sie benötigen ein Fahrzeug mit mindestens Stufe 4, das in nahezu allen Situationen die Verantwortung übernimmt. Bei einem Level-5-Auto erledigt das System die Fahraufgaben komplett, und der Fahrer braucht gar nicht mehr ins Geschehen einzugreifen – er hat sogar keine Möglichkeit mehr dazu. Notbremsen wie im Zug sind noch nicht angedacht.
Doch von Fahrzeugen auf Stufe 5 ist die Entwicklung noch weit entfernt. Der in Peking durch die Stadt rollende Mercedes arbeitet im automatisierten Fahren auf Stufe 2, der Hersteller spricht lieber etwas spitzfindig von 2++. Ab nächstem Jahr soll das System in China bestellbar sein. Level 2++ bedeutet, dass das Auto zwar selbständig fährt, der Fahrer aber jederzeit eingreifen können muss – innerhalb von sechs bis zehn Sekunden. Piloten müssen also während der Fahrt aufmerksam bleiben, können jedoch ihre Hände kurz vom Lenkrad nehmen.
«Es ist ein Assistenzsystem, das Autofahrer im Stadtverkehr weiter entlasten soll», sagt Georges Massing, Entwicklungsleiter Automatisiertes Fahren bei Mercedes-Benz. Autofahren in komplexen Stadtszenarien soll damit für viele Menschen einfacher werden.
Doch das geschieht nicht von heute auf morgen. Der Aufwand für die Automatisierung ist immens hoch. Hochautomatisierte Autos benötigen Systeme zur Überwachung des Verkehrs. Dazu zählen Kameras, Lidar, Radar und Ultraschall, die für unterschiedliche Situationen unabdingbar sind.
Kameras nehmen bei guten Sichtverhältnissen das Verkehrsgeschehen auf, Radar überwacht die Umgebung, Ultraschall erkennt im Nahbereich Objekte. Teuer wird es mit Lidar-Sensoren (Light Detection and Ranging). Die senden Laserimpulse aus und messen, wie lange es dauert, bis die Impulse nach dem Auftreffen auf ein Objekt in ihrem Weg zurückkehren. Das System generiert hochauflösende 3-D-Bilder, erkennt zuverlässig Hindernisse und gibt genaue Informationen für den Weg und das Navi.
Allerdings arbeiten die kostspieligen Lidar-Systeme bei Schlechtwetter unzuverlässiger als Radar, und sie erkennen keine Verkehrsschilder wie Kameras. Nur ein Mix aus den verschiedenen Systemen kann daher den Verkehr umfassend aufnehmen und für eine sichere Fahrt verarbeiten. Mercedes-Benz setzt unter anderem zehn Kameras und fünf Radarsensoren ein. Auf eine HD-Navigationskarte kann Mercedes daher verzichten. In einem Nissan-Leaf-Prototyp sorgen sogar vierzehn Kameras, zehn Radar- und sechs Lidar-Sensoren für Sicherheit.
Noch ist es eine Frage des Preises
Das macht das hochautomatisierte Fahren auch künftig sehr teuer. Daher lohnt sich die Investition in den nächsten Jahren nur für gewerbliche Bereiche wie Lkw, Stadtbusse oder Shuttlefahrzeuge, wo sonst menschliche Fahrer beschäftigt werden. Wenn die Technologie im Wert von rund 50 000 Euro einen Chauffeur ersetzen kann, kann das unter Umständen wirtschaftlich sein.
Im privaten Pkw-Bereich wird das Assistenzsystem zuerst im Oberklassesegment Einzug halten, und dies vielleicht noch vor 2030. «Mit besserer Sensorik wie hochauflösendem Lidar und mehr Rechenleistung für genauere Algorithmen ist eine Einführung in den nächsten fünf Jahren möglich», sagt Lienkamp.
Doch es gibt auch Kritik an dem neuen Assistenzsystem. Der grösste deutsche Automobilklub, ADAC, betrachtet Systeme nach Level 2+ ambivalent, da der Fahrer weiterhin den Blick auf der Strasse haben muss und er keinen richtigen Vorteil erhält. Zudem steigt damit das Risiko, dass sich Fahrer zu sehr auf Assistenzsysteme verlassen, während sie jederzeit in der vollen Verantwortung sind.
Auch Lienkamp sieht nur einen geringen Nutzen von Stufe 2+. Das System werde in der Stadt schnell an seine Grenzen stossen und sich abschalten. «Ausserdem muss der Fahrer permanent aufpassen», sagt er. Eine Entlastung wie bei einem Level-3-System auf längeren Strecken auf der Autobahn finde bei 2+ nicht statt.
Bis anhin verfügt jedoch kein Autohersteller über eine Zulassung zum hochautomatisierten Fahren in der Stadt. Seit Juni 2017 ist zumindest in Europa die Gesetzgebung dahingehend geändert worden, dass hochautomatisiertes Fahren zulässig ist, «solange die Funktion bestimmungsgemäss verwendet wird».
Das Schwierige beim automatisierten Fahren sei, dass die Systeme zwar bis zu 99 Prozent zuverlässig funktionierten. «Das Problem bereitet aber das eine Prozent, bei dem das System nicht funktioniert und der Fahrer plötzlich eingreifen muss», sagt Lienkamp.
Nach einem erfolgreichen Einsatz der Mercedes-Fahrzeuge in China 2025 soll die Einführung in Nordamerika folgen, und auch die Gespräche mit europäischen Behörden laufen bereits. Nissan will ab 2027 automatisiert durch die Stadt fahren. Auf deutschen Autobahnen wird es ab Ende des Jahres teilautomatisiert noch schneller gehen. Mercedes will dann die Höchstgeschwindigkeit seines Drive-Pilot-Systems von 60 auf 90 Kilometer pro Stunde steigern.