Der Bahnausbau laufe aus dem Ruder, sagt Thomas Küchler, Direktor der Südostbahn (SOB). Es gebe immer mehr Ausbauten, die nicht zweckmässig sind. Schuld sei die Politik.
Herr Küchler, der Nationalrat hat vor kurzem der Strategie Bahn 2050 zugestimmt und das nächste Ausbaupaket des Bundesrats um 350 Millionen Franken aufgestockt. Wie beurteilen Sie die Entscheide?
Die Perspektive Bahn 2050 des Bundesrats ist ein grundlegender Fehler. Die Planungshierarchie des Schweizer ÖV-Systems beginnt mit dem internationalen Verkehr und dem nationalen Fernverkehr, die als Rückgrat dienen. Darauf aufbauend, kommen in den Knotenpunkten die Anschlüsse auf Schiene und Strasse. Die Strategie Bahn 2050 kehrt dieses Paradigma um, indem sie den Agglomerationsverkehr stärken will. Das ist verdammt gefährlich. Man sollte nicht von unten nach oben planen. Wir haben schon beim letzten Ausbauschritt gesehen, dass dies zu Problemen führt.
Das Parlament will mit Zusatzprojekten wie dem Doppelspurausbau am Walensee vorwärtsmachen. Das müsste die SOB freuen.
In der Branche hat diesen Ausbau niemand gefordert. Aufgrund der aktuellen Angebotsplanungen macht das keinen Sinn. Wir sollten die Mittel besser dort investieren, wo wir Engpässe haben. Der nächste Ausbauschritt ist vorwiegend politisch motiviert. Es ist richtig, zwischen Lausanne und Genf einen Tunnel zu bauen, weil es in der Romandie grosse Probleme gibt. Aber die anderen Projekte sind alle Forderungen der Kantone. Ich war für den Branchenverband in der ständerätlichen Verkehrskommission. Ich bin mir wie in einem Basar vorgekommen. Das schadet der Bahn.
Sie waren Projektleiter der SBB für die Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist. Warum sind in der Schweiz grosse Würfe wie die Bahn 2000 und die Neat kaum mehr möglich?
Das Projekt Bahn 2000 kam zu einem Zeitpunkt, als der Einfluss der Politik noch nicht so gross war. Fachleute mit guten Ideen haben bei Entscheidungsträgern Resonanz gefunden, die mehr Spielraum hatten. Heute hat der Bahnausbau wenig mit fachlichen oder marktspezifischen Argumenten zu tun, sondern dient vor allem der Profilierung: Die Politiker in den Kantonen wollen möglichst viele rote Bänder durchschneiden. Das macht grosse Würfe schwierig.
Von den SBB als grösster Bahn ist in der Debatte kaum etwas zu hören. Wie ist das zu erklären?
Die SBB halten sich zurück, weil sie vom Bund eine Milliardenspritze erhalten sollen. Das Unternehmen ist nahe bei der Politik und der Verwaltung. Im Militär gibt es das Sprichwort, dass es weit weg vom Schuss alte Krieger gibt. Ich bin froh, in der Ostschweiz arbeiten zu können, weil sich die Politik da überhaupt nicht einmischt. In Bern wäre das anders, wie ich bei meinen Kollegen der Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) sehe. Bei den SBB ist der politische Einfluss noch viel grösser. Ich beneide den SBB-Chef Vincent Ducrot nicht. Sein Job wäre für mich tödlich.
Wie konnte es so weit kommen, dass die Bahnpolitik zur Regionalpolitik geworden ist?
Vor der Bahn 2000 galt der öffentliche Verkehr nicht als wahnsinnig attraktiv. Die Umsetzung des Konzepts brachte einen enormen Schub, was auch die Politik und die Bevölkerung gemerkt haben. Heute ist der öV positiv konnotiert. Die stärkere Politisierung führt dazu, dass es immer mehr Ausbauten gibt, die nicht alle zweckmässig sind und enorme Folgekosten im Unterhalt und im Betrieb nach sich ziehen. Das wird für den Bahninfrastrukturfonds zum Problem.
Das müssen Sie erklären.
Auf dem Papier sieht der Bund für die Erneuerung und den Unterhalt der Infrastruktur für die nächste Vierjahresperiode mehr Mittel vor. Mit der Teuerung ist real aber weniger Geld als vorher eingeplant. Gleichzeitig hält der Bund im Bahninfrastrukturfonds eine Reserve von einer Milliarde Franken zurück, für irgendwelche zusätzlichen Ausbaumassnahmen. Wir haben als Branche klargemacht, dass das nicht geht. Wenn man jetzt anfängt, beim Unterhalt zu sparen, verschiebt man diesen nur in die Zukunft. Die drastischen Folgen sehen wir in Deutschland. Das Land hat aus politischen Gründen Neubaustrecken gebaut, aber den Bahnunterhalt über Jahre immer wieder verschoben. Nun hat es die Rechnung erhalten, die viel teurer ist, als wenn regelmässig investiert worden wäre.
Wollen Sie sagen, dass in der Schweiz deutsche Verhältnisse drohen?
Ich will nicht dramatisieren. Aber die Schweiz steht davor, den gleichen Fehler wie Deutschland zu machen. Im Moment schaut die Politik einfach, wie viel Geld im Bahninfrastrukturfonds ist, und jeder Kanton plant und äussert Wünsche. Das Parlament hat das Gefühl, dass es einen Topf voller Geld gibt, das es ausgeben kann. Jede Milliarde, die wir für Ausbauten ausgeben, führt pro Jahr jedoch zu Folgekosten von 30 bis 40 Millionen Franken. Die finanziellen Folgen des letzten und des nächsten Ausbauschritts sind massiv. Der Substanzerhalt muss Vorrang vor der Erweiterung haben, wie es gesetzlich vorgesehen ist. Dem Bundesrat und der Verwaltung aber fehlt der Wille, den Kantonen Grenzen zu setzen.
Was muss sich ändern?
Das Patentrezept habe ich nicht. Aber wir sollten als Branche vermehrt Stopp sagen und Ausbauten hinterfragen, die zu wenig Sinn ergeben. Es kann nicht sein, dass der Bund allein mit den Kantonen für die Angebotsplanung zuständig ist. Die Bahnen müssen zwingend wieder mitreden. Zudem sollte die Politik bei Ausbauten vermehrt die Kosten berücksichtigen, die über die Zeit entstehen. Hilfreich wäre, beim Bahninfrastrukturfonds transparent auszuweisen, welche Mittel für den Unterhalt gebunden sind und was für den Ausbau zur Verfügung steht.
Warum steigen die Kosten für den Unterhalt und die Erneuerung so stark?
Neben den Folgekosten von Ausbauten führt die zunehmende Regulierungswut in der EU und der Schweiz, die bis ins kleinste Detail geht, zu höheren Kosten. Aufgrund der technologischen Entwicklung müssen wir bis zum Jahr 2035 die Funksysteme ablösen, die immer noch mit dem 2G-Standard funktionieren. Die EU hat dafür und für die flächendeckende Einführung des Zugsicherungssystems ETCS harte Deadlines gesetzt. In den nächsten Jahren kommt damit ein zusätzlicher Mittelbedarf von mehreren Milliarden Franken auf die Schweizer Bahnen zu.
Muss die Schweiz diese Technologien übernehmen?
Die Schweiz hat sich grundsätzlich verpflichtet, bei der Bahn EU-kompatibel zu sein. Ich befürworte die technische Harmonisierung auf europäischer Ebene. Eine Schweizer Insellösung wäre sehr teuer und aufwendig. Aber die EU denkt in verschiedenen Bereichen anders als wir. Der Fernverkehr in Europa betrifft vor allem Hochgeschwindigkeitsstrecken, die mehrere hundert Kilometer lang sind. Wir in der Schweiz haben im Vergleich ein überdimensioniertes S-Bahn-System. Für uns ist es ein Problem, dass die Systemlösungen, die heute in Europa entwickelt werden, für diese langen Strecken gedacht sind.
Die Schweiz gilt bei der Bahn international als Vorbild. Hat sie bei diesen Technologien nichts zu sagen?
Früher konnten wir uns und unsere Interessen einbringen, zum Beispiel bei der ersten Version der europäischen Zugsicherung ETCS. Heute sind wir in Geiselhaft der EU. Nach dem Abbruch beim Rahmenvertrag hat sie uns auf technischer Ebene überall ausgeschlossen. Wir können uns heute nirgendwo mehr vernünftig einbringen, vor allem wenn es um die Grundsatzentscheide geht. Wir übernehmen die Systemlösungen und Normen, ohne mitreden zu können. Die neusten EU-Vorschriften sind für die Schweiz ein Riesenproblem.
Inwiefern?
Die jüngste Version der Zugsicherung ETCS wird zu grossen Fahrzeitverlusten führen. Wir können eine Zürcher S-Bahn nicht mehr wie heute fahren. Die Zugsicherung greift schneller ein und bremst die Lokführer. Das führt dazu, dass diese zwangsweise defensiver fahren müssen. Über kurz oder lang torpedieren wir damit unser System. Wollen wir einen Qualitäts- und Leistungsabbau, nur weil wir europäische Normen umsetzen müssen, bei denen wir nicht mehr mitreden dürfen? Mich treibt das viel stärker um als die Frage, ob der internationale Personenverkehr für die Konkurrenz geöffnet werden soll. Das ist eine dieser typischen politischen Diskussionen.
Sie treten Anfang 2025 bei der SOB zurück. Haben Sie erreicht, was Sie als Bahnchef erreichen wollten?
Ja, ich habe die Aufträge, die ich vom Verwaltungsrat erhalten habe, erfüllt. Am wichtigsten war der Einstieg in den Fernverkehr. Allein mit dem Regionalverkehr wäre langfristig unsere Existenz auf dem Spiel gestanden. Nun sind wir gut aufgestellt. Mit der starken Nachfrage werden Doppelstockzüge für einige Strecken auch für uns ein Thema werden.
Sie haben der Branche Impulse gegeben. Aus manchen Projekten wie der Mobilitätsplattform Abilio ist aber nichts geworden.
Wenn man etwas Neues ausprobieren will, muss man bereit sein, zu scheitern. Abilio war als Produkt ein Reinfall. Aber der Grundgedanke, mit anderen eine digitale Plattform zu betreiben, hat sich durchgesetzt. Im Freizeitbereich ist uns das mit dem «Treno Gottardo» und anderen Angeboten gelungen. Viele Tourismusgebiete sind mit uns auf der Plattform oder nutzen diese selbständig.
Ist es in der Schweiz verpönt, etwas zu wagen – und auch zu scheitern?
In der Schweiz ist man versucht, Häme zu zeigen, wenn man jemand scheitert. Etwas zu wagen, heisst aber nicht, beliebig Risiken einzugehen. Es braucht den Mut, einen Schlussstrich zu ziehen, wenn etwas nicht funktioniert.
Werden Sie nach Ihrem Rücktritt einen Schlussstrich ziehen oder der Branche erhalten bleiben?
Ich habe mich entschieden, der Branche den Rücken zu kehren, mit Ausnahme eines regionalen Mandates. Wenn man seine Aufgabe erfüllt hat, muss man einen Strich ziehen können. Ich werde mich hüten, mich weiterhin in der Öffentlichkeit zum Tagesgeschehen zu äussern.
Der Impulsgeber tritt ab
gaf. Thomas Küchler ist seit dem Jahr 2010 Direktor der Südostbahn (SOB). Unter seiner Führung ist diese gewachsen. Die SOB stieg in Kooperation mit den SBB in den Fernverkehr ein und betreibt unter anderem mit Erfolg den «Treno Gottardo». Im Dezember kommt der «Alpenrhein-Express» von St. Gallen nach Chur hinzu. Küchler setzte Akzente, mit kontaktlosen Billetten oder Versuchen mit dem automatischen Fahren. Vor der SOB war er bei der SBB-Division Infrastruktur tätig und Projektleiter für den Bau der Neubaustrecke der Bahn 2000. Der Bauingenieur präsidiert die Infrastruktur-Kommission des nationalen Branchenverbands VöV. Im Januar gab die SOB bekannt, dass er Anfang nächstes Jahr vorzeitig in Pension geht.