Die weit verbreiteten Baueinsprachen sind ein Schlupfloch für Missbrauch und eine Versuchung für alle, die es mit der Moral nicht so genau nehmen. Das sagt der Zürcher Professor und Immobilienexperte Peter Ilg.
Herr Ilg, weshalb wird in der Schweiz ein Grossteil der Bauprojekte durch Einsprachen verzögert, ja sogar verhindert?
Peter Ilg: Mit sehr geringem Aufwand lassen sich Projekte um Jahre verzögern, was dem Bauherrn massiven finanziellen Schaden zuführen kann. Dies verschafft denjenigen, die zu einer Einsprache berechtigt sind, eine starke Machtposition. Wenn man diese Machtposition praktisch kostenlos ausnutzen kann, bringt dies alle diejenigen in Versuchung, die es mit der Moral nicht so genau nehmen. Denn von der berechtigten Einsprache ist es nur ein kleiner Schritt zur Nötigung. So sind die heute gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten von Einsprachen geradezu eine Einladung für halbkriminelles Verhalten.
Einer Einsprache sieht man nicht gleich an, dass sie querulatorisch ist.
Die Rekurrenten und ihre Anwälte sind natürlich versiert genug, dass man ihre Eingaben und Einwendungen nicht als strafbare Handlung verfolgen kann. Sie vermeiden zum Beispiel in Verhandlungen jede Schriftlichkeit. Bei Einsprachen werden dann andere Gründe vorgeschoben. Dann heisst es, man sorge sich um die Mieter im Neubau und gibt vor, dort würden die Lärmvorschriften nicht eingehalten. Das Problem liegt auch darin, dass nicht nur die Bauherrschaft unter den Folgen leidet. Einsprachen haben mittlerweile eine volkswirtschaftliche Bedeutung erlangt. Sie führen dazu, dass zahlreiche Projekte gar nicht erst realisiert werden oder scheitern, was letztlich zu einem Mangel an zusätzlichem Wohnraum führt.
Ist es nicht ein rechtsstaatliches Prinzip, dass sich betroffene Nachbarn zu einem Bauprojekt äussern können?
Erfahrene Anwälte aus der Praxis sagen mir klar: Es geht meist nicht um gerechtfertigte Ansprüche, sondern schlicht und einfach darum, das Bauen auszubremsen und zu verhindern. Wir haben entsprechende Zahlen ausgewertet. In erster und zweiter Instanz werden rund 80 Prozent aller Einsprachen abgewiesen, zurückgezogen, für gegenstandslos erklärt, oder das Gericht tritt gar nicht auf die Einsprache ein. Dabei müssen wir noch hinzufügen, dass viele Bauherrschaften einlenken und sich den Forderungen des Nachbarn beugen. So kommt es gar nicht zu einer offiziellen Einsprache.
Inwiefern sind die Städte, die baulich verdichtet werden sollen, besonders betroffen?
Auch im urbanen Umfeld hat die Einsprachesucht weitreichende Konsequenzen. Wenn wir mit der Verdichtung Ernst machen wollen, müssen Investoren wie Pensionskassen oder Genossenschaften die entsprechenden Planungsinstrumente nutzen, zum Beispiel mit Gestaltungsplänen. Das Risiko, dass diese Planungen durch Einsprachen abgeschossen werden, ist enorm hoch. Also verzichten heute die meisten Investoren darauf, überhaupt noch solche Projekte zu lancieren. Damit ist aber auch die allseits geforderte städtische Verdichtung kaum realisierbar.
Peter Ilg ist Professor und Leiter des Swiss Real Estate Institute an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ). Er studierte Betriebswirtschaft und war unter anderem Finanzchef in verschiedenen Unternehmen.