Riesige Überschüsse im Sommer, eine klaffende Stromlücke im Winter: Gelingt es der Schweiz nicht, das Stromgesetz umzusetzen, drohen gemäss dem Verband der Elektrizitätsunternehmen gravierende Versorgungsprobleme.
Wie schafft es die Schweiz, bis 2050 klimaneutral zu werden? Das kann nur gelingen, wenn der Verkehr und das Heizen weitgehend ohne fossile Energien auskommen. Und dies ist wiederum nur realistisch, wenn die Schweiz viel mehr Strom produziert als heute. Sollte 2050 auch kein Schweizer Kernkraftwerk mehr laufen, klafft dannzumal eine riesige Stromlücke, die es zu schliessen gilt.
Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) rechnet in einem Update zur Studie «Energiezukunft 2050» damit, dass der Stromverbrauch bis 2050 um rund 50 Prozent auf gut 90 Terawattstunden (TWh) steigt – die künftigen Effizienzmassnahmen eingeschlossen.
Die Studie zeigt auf, dass es in der Energiewelt von morgen im Sommer jeweils enorme Stromüberschüsse geben wird und negative Preise an der Tagesordnung sein werden – wer Strom produziert, muss dem Abnehmer dann sogar noch Geld bezahlen. Im Winter jedoch drohen sich die Versorgungsprobleme noch zu akzentuieren. Auf Importe zu setzen, ist gefährlich. Steht die Schweiz vor einem Engpass, ist das Risiko hoch, dass dann auch in den Nachbarländern der Strom fehlen wird. Kommt es etwa im Winter zu einer anhaltenden Kältewelle, sind davon höchstwahrscheinlich auch Frankreich und Deutschland betroffen und können weniger exportieren.
Wo also soll der zusätzliche Strom herkommen? Gemäss der Studie des VSE hängt dies entscheidend davon ab, ob die Umsetzung des Stromgesetzes gelingt, dem das Schweizer Stimmvolk im vergangenen Jahr zugestimmt hat. Gelingt es nicht, die im Gesetz verankerten 16 Wasserkraftprojekte sowie neue Wind- und alpine Solaranlagen zu realisieren, muss die Schweiz in grossem Stil auf Gaskraftwerke zurückgreifen.
Im schlechtesten Fall müssten diese im Winterhalbjahr fast die gleiche Menge an Strom liefern, wie die beiden bestehenden Kernkraftwerke in Leibstadt und Gösgen im Jahr produzieren. Anders als heute, wo Gaskraftwerke nur bei drohenden Engpässen zum Zug kommen – was noch nie der Fall war –, müssten diese regelmässig zur Stromproduktion hochgefahren werden. Unter diesen Vorzeichen die Klimaziele zu erreichen, wäre eine enorme Herausforderung.
Stromabkommen macht Versorgung resilient
Deutlich erhöht würde die Versorgungssicherheit im Winter gemäss dem Verband durch ein Stromabkommen mit der EU. Die Schweiz erhielte damit viel mehr Kapazitäten für Importe und Exporte, was die Versorgung insgesamt resilienter machen und den Bedarf an teuren Reservekraftwerken, die nur bei drohenden Mangellagen eingesetzt würden, senken würde. Ebenfalls würde der Strom günstiger werden, da die Systemkosten, also die Ausgaben für Investitionen, Betrieb und Unterhalt der Infrastruktur, verringert werden könnten.
Zumindest in der Theorie fährt die Schweiz laut der Studie am besten, wenn sie den Ausbau der Windkraft forciert. Für Windanlagen spricht, dass sie auch bei schlechtem Wetter Strom liefern – also dann, wenn die Solaranlagen ihren Dienst versagen. Da sich die beiden Technologien ergänzen würden, werde die Produktion stabiler, sagte der VSE-Präsident Martin Schwab am Mittwoch bei der Präsentation der Studie. Mit dem Zubau von Solaranlagen auf Dächern allein werde unser Land in den nächsten Jahrzehnten zwar im Sommer über genügend Strom verfügen, für den Winter jedoch werde es nicht reichen.
Setzt die Schweiz auf die Karte «mehr Wind», hätte dies einen weiteren Vorteil. So könnten mit einem guten Mix von Photovoltaik und Windenergie die Überschüsse im Sommer reduziert werden. Da die Versorgung damit ausgeglichener würde, könnten die Kosten fürs Netz gesenkt werden. Letztere steigen gemäss der Prognose der Stromwirtschaft stark an von heute 4 Milliarden Franken pro Jahr auf 9 Milliarden Franken bis 2050, sofern die Einspeisung von Solarstrom zu Spitzenzeiten nicht abgeregelt wird.
Da der Ausbau der Windkraft hierzulande jedoch auf breiten Widerstand stösst – bis dato sind in der Schweiz nicht einmal 50 Windräder in Betrieb –, hält Schwab es für unrealistisch, dass diese Technologie bis 2050 einen relevanten Beitrag an die Versorgungssicherheit leisten wird. Gelingt es den Gegnern weiterhin, Windräder zu blockieren, wird die Schweiz damit in Zukunft wohl auf grosse Strommengen von Gaskraftwerken angewiesen sein. Zumal auch der Bau alpiner Solaranlagen nicht vom Fleck kommt.
Deutlich entspannen würde die Situation, wenn die beiden Kernkraftwerke Gösgen und Leibstadt bis 2060 am Netz blieben: Der Bedarf nach ergänzender Produktion mit Gas könnte damit um die Hälfte verringert werden. In technischer Hinsicht sollte eine Verlängerung möglich sein: In den USA haben die Behörden jüngst Anträge für eine Laufzeit von 80 Jahren für Kernkraftwerke bewilligt.
Neue Kernkraftwerke von Studie ausgeschlossen
Wie sich der Bau neuer Kernanlagen auf die Versorgungssicherheit auswirken würde, hat der VSE in seiner Studie erstaunlicherweise nicht modelliert. Der Verband spricht sich zwar für den Gegenvorschlag des Bundesrats zur sogenannten «Blackout stoppen»-Initiative aus, der das bestehende Verbot für den Neubau von Kernkraftwerken aufheben möchte. Trotzdem geht der Verband nicht davon aus, dass neue Kernanlagen bis 2050 gebaut werden können.
«Niemand würde heute ein neues AKW planen», betonte Schwab, diese seien heute aufgrund der technischen und regulatorischen Risiken schlicht nicht wirtschaftlich genug. Gerade im Hinblick auf eine mögliche Volksabstimmung wäre es dessen ungeachtet interessant gewesen zu erfahren, wie sich der Bau neuer Kernkraftwerke auf die Versorgungssicherheit und die Kosten des Energiesystems auswirken würde.