Der Schweizer Komponist ist ein Avantgardist, der trotzdem beim Publikum ankommt. An diesem Freitag wird Furrer siebzig.
Im März wird in Zürich eine neue Oper zur Uraufführung kommen – sie hat es in sich. Das Werk trägt den Titel «Das grosse Feuer» und stammt von dem Schweizer Komponisten Beat Furrer. Als Vorlage dient ihm ein Roman von Sara Gallardo, in dem es um die Auslöschung eines südamerikanischen Volkes durch Kolonialisierung geht. Eine ungewöhnliche Stoffwahl für diesen Komponisten, dem gelegentlich unterstellt wurde, er interessiere sich «nur» für Klänge. Soll heissen: für eine weltabgewandte, unpolitische Kunst. Doch Furrer, der an diesem Freitag siebzig Jahre alt wird, hat in jüngerer Zeit immer wieder zu erkennen geben, dass die starke Politisierung der Gegenwart auch an ihm nicht spurlos vorübergeht.
Wie die Oper entstanden ist, kann man Schritt für Schritt verfolgen – auf der Homepage des Klangforums Wien. Das renommierte Ensemble für zeitgenössische Musik wurde 1985 auf Initiative Furrers gegründet, nachdem der gebürtige Schaffhauser die Schweiz bereits zehn Jahre zuvor zum Studium Richtung Österreich verlassen hatte. Im Spätsommer wurde zwei Monate lang eine Kamera vor Furrers Arbeitstisch installiert an seinem Zweitwohnsitz im Gesäuse, einem Gebirge, wohin er sich oft zum Komponieren zurückzieht. Dem Lärm der Welt maximal entrückt, zeichnet Furrer abends an riesigen Notenblättern, steht nur gelegentlich auf, um sich Kaffee oder Tee zu holen, ruhig und anscheinend vollkommen planvoll.
Ein Wanderer – wie Beethoven
Das Video ist Teil des multidisziplinären Grossprojekts «Furrer 70», das als Hybrid aus Homepage und einer limitierten Box mit CD und Büchern aufgelegt wurde. Furrer selbst hat dafür mit dem Klangforum achtzehn Werke neu eingespielt, die er als massgeblich für seine kompositorische Biografie erachtet: Ensemble- und Kammermusik, Konzerte, Vokalmusik, entstanden zwischen 1986 und 2020; dazu das Musiktheater «Begehren», Furrers Perspektive auf den Orpheus-Stoff, den Ur-Mythos der europäischen Oper.
Fotos und Videos geben Einblicke in seine beiden Häuser, das im Gesäuse und in seinen Erstwohnsitz im niederösterreichischen Kritzendorf. Sogar die Bibliothek des belesenen Künstlers hat man gelistet, 2560 Bände, mit seinen Kommentaren zu einzelnen davon, so wie man das sonst nur bei längst verstorbenen Komponisten tut. Dabei ist Furrer höchst lebendig, wie man in einem weiteren Video erleben kann, und sportlich dazu. Es zeigt Furrer bei Wanderungen im Gesäuse, mit umgeschnallter Kamera und raschem Tritt, fast immer aufwärts, wie ein Wiedergänger Beethovens, der ebenfalls zur Inspiration und zur Entspannung wanderte.
Beide Videos umkreisen ein Motiv, das auch ein wesentliches Moment in Furrers Musik ist: Sie lebt von hoch motorischen Bewegungen aus unzähligen kleinen Klangereignissen, die in der Summe aber oft auf einen Stillstand zuhalten, genauer: in denen Stillstand und Bewegtheit einander entgegenstreben. Wie in «Nuun», dem neu eingespielten Konzert für zwei Klaviere und Ensemble von 1995, in dem das «Nu», der maximal lebendige Augenblick des Meister Eckhart, beschworen wird.
Furrer schafft diese Klangereignisse unter anderem durch die Integration ungewöhnlicher Spieltechniken, von Mikrotönen, Obertonspektren und Schwebungseffekten, die Instrumentalisten äusserste Virtuosität abverlangen.
Sturzbäche, Schneegestöber
Unter den vielfältigen Strömungen in der Gegenwartsmusik darf man Furrer nach wie vor den dezidierten Avantgardisten zurechnen. Nicht ohne Grund wird Theodor W. Adorno, dessen Musikphilosophie wegen ihres orthodoxen Modernebegriffs heutzutage gern belächelt wird, in der kommentierten Bibliothek ein «noch immer wichtiger Begleiter» genannt. Dennoch erfährt Furrer, besonders in der Oper, dem publikumswirksamsten Genre, regelmässig eine breite Wahrnehmung. Allein «Begehren» wurde seit Juli auf wichtigen Podien viermal gespielt, bei den Salzburger Festspielen, am Lucerne Festival, bei Wien Modern und im Konzerthaus Dortmund, wo auch der Live-Mitschnitt entstand.
Einer der Gründe dafür ist sein unverwechselbarer Personalstil. Dazu gehört auch der Umstand, dass sich Furrers Musik recht gut in Natur-Metaphern beschreiben lässt: beispielsweise als Klangsturzbäche, die wie in einem Strudel umeinander wirbeln; als Schneegestöber, das zu Eis gerinnt; als Sand, der sich ebenso aufwirbeln lässt, wie er eine Wüste bilden kann. Musikalisch überlagert Furrer stets mehrere bewegte Schichten, und auch in den Texten für seine Opern greift er meist gleichzeitig auf Texte aus unterschiedlichen Epochen zurück.
Zu seinen Lieblingstexten gehört dabei «De rerum natura» des römischen Dichterphilosophen Lukrez, der bereits im ersten Jahrhundert vor Christus die Welt aus wirbelnden Atomen gefügt sah. Beim Komponieren zerlegt Furrer den Text seinerseits in Laute, in Klang-Atome. Die menschliche Stimme verwandelt sich auf diese Weise dem Instrumentalen an; dies geschieht häufiger in zeitgenössischer Musik. Bei Furrer sollen die Instrumente aber zugleich der Stimme nacheifern, sollen sprechen, flüstern, schreien. Exemplarisch in «Xenos III» für zwei Schlagwerker und Streicher, für das Furrer mithilfe einer Software die Rhythmik und die Formanten der eigenen Sprechstimme reorchestriert hat. Oder in «Invocation VI», einem Ausschnitt aus «Invocation», seiner ersten Oper für Zürich aus dem Jahr 2003, wo sich Sopran und Bassflöte geradezu imitieren, verbunden im Atmen, einem Leitmotiv von Furrers Schaffen.
Sinn für Gegensätze
Diese Spannung und gleichzeitige Verschmelzung von natürlicher Stimme und gebautem Instrument, Fluss und Konstrukt, von Ursprünglichkeit und Zivilisation mag nebenbei erklären, warum sich Furrer schon länger für das Schicksal indigener Völker im Strudel der modernen Welt interessiert. Belegt ist das auch in seiner Bibliothek mit einschlägigen Titeln von Claude Lévi-Strauss oder, jünger und politischer, von Achille Mbembe.
Ebenso gehen in seinen Lebenswelten Natur und Kunst ein Bündnis ein. Etwa an seinem Haus in Kritzendorf, das in seiner quadratischen Blockhaftigkeit – von Furrer selbst gemeinsam mit Architekten entworfen – fast wie ein Manifest der Moderne wirkt, durch die üppigen Glasfronten aber durchlässig zur umgebenden Natur bleibt. Einblicke in die Innenwelten des Komponisten gewähren die Bilder von «Furrer 70» nur in begrenztem Mass. Sie spielen mehr mit dem Versprechen einer Intimität, haben aber eine ähnlich abstrakte Wirkung wie der gefilmte Kompositionsprozess, bei dem der Ton der Kamera abgeschaltet wurde. Beim Wandern wiederum bleibt der Komponist selbst unsichtbar, man hört nur seinen Atem. Beat Furrer bedient Erwartungen, indem er sich dem Erwartbaren entzieht. Genau wie in seiner Musik.