Maurizio Pollini wurde schon als junger Pianist von Arthur Rubinstein gelobt, sein Klavierspiel liess die latenten Katastrophen erahnen. Am Samstag ist der grosse Musiker gestorben.
Es geht offenbar auch ganz anders. Maurizio Pollini war über Jahrzehnte einer der erfolgreichsten Pianisten in der internationalen Musikwelt, ein Publikumsmagnet, ein Exklusivkünstler, ein Garant für ausverkaufte Säle. Und doch blieb er sein Leben lang der kompromissloseste Künstler: unbeirrbar in seinem programmatischen Anspruch, in seinen radikalen Interpretationen, seinen Idealen und seiner Kritik.
Der Ruhm konnte ihn nicht korrumpieren. Mit achtzehn Jahren gewann Pollini den Warschauer Chopin-Wettbewerb und wurde obendrein von Arthur Rubinstein mit den höchsten Komplimenten geadelt. Auf diesen frühen Triumph aber reagierte Pollini so paradox wie weitsichtig, indem er sich der raschen Karriere verweigerte und sich für ein Jahr sogar ganz von den Podien zurückzog, auch danach nur wenige Auftritte zusagte – ein Grundsatz, an dem er festhielt bis zuletzt: Mehr als vierzig Konzerte jährlich mochte er sich niemals zumuten.
Widersprüchlich blieb auch sein Verhältnis zu Chopin, dessen Schaffen ihn sein Leben lang begleitete. Denn Pollini wollte nicht mit dem einseitigen Ruf eines Chopin-Spezialisten belegt werden. Gleichwohl fühlte er sich diesem Komponisten näher als anderen. Das liege am «Doppelcharakter seiner Musik», verriet er: «unglaubliche Tiefe» in Wechselwirkung mit einer «magischen Fähigkeit, für das Klavier zu komponieren».
Momentaufnahmen
Pollini, der sich eingehend mit Quellenstudien beschäftigte, Fassungen und Editionen verglich, bewunderte vor allem Chopins skrupulöse Arbeitsweise, einen Takt hundert Mal niederzuschreiben, zu verändern, zu verwerfen, wieder ganz neu zu fassen. Auch Pollini spielte die Stücke «tausend Mal». Seine Kunst hatte wenig mit Vorstellungen meisterlicher Vollendung zu tun, selbst Aufnahmen begriff er als Momentaufnahmen.
Hört man Pollini – nun leider nie mehr live, aber in unzähligen Tondokumenten –, wird man nicht mit letztgültigen Interpretationen für die Ewigkeit konfrontiert: Man folgt einer Suchbewegung und begreift, welcher Reichtum an Möglichkeiten sich hinter jeder Note auftut: Es könnte alles auch ganz anders sein. Unruhe, Begeisterung, Anspannung, Unberechenbarkeit zeichneten Pollinis Klavierspiel aus – keine Chance, sich bequem zurückzulehnen.
Schumann und Chopin standen bei ihm immer wieder und immer von neuem auf dem Programm. Und Ludwig van Beethoven. Fast vierzig Jahre umspannte seine zyklische Gesamteinspielung der 32 Klaviersonaten: «Seine Musik steckt voller Stoff zum Nachdenken. Da ist unser Verstehen noch nicht tief genug gegangen», betonte Pollini. «Wenn wir dann zu den späten Sonaten kommen, können wir jahrelang darüber meditieren, was uns diese Stücke sagen wollen.»
Und selbst mit einem so überaus populären Werk wie der «Waldstein-Sonate» revolutionierte Pollini die Wahrnehmung: Im Kopfsatz verwirbeln die nicht mehr fasslichen Töne unter der extremen Geschwindigkeit wie in einem Strudel, sie lösen sich auf in reiner klanglicher Sensation; und in der fragmentierten Introduktion zum Finale geben die Pausen den Blick frei in bodenlose Abgründe. Pollinis Klavierspiel mied die Andacht wie das Idyll, er liess vielmehr die latenten Katastrophen erahnen, das Endliche, nicht das Endgültige.
Musikgeschichte im Mikrokosmos
Der 1942 in Mailand geborene Architektensohn konnte die Traumata der europäischen Geschichte nicht ausblenden: Unter seinen Händen klärte sich jede Musik zu einer Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Ohnehin wollte Pollini als Interpret die Modernität älterer Werke ins Bewusstsein heben, ein Aha-Effekt in zwei Richtungen: «Zum Beispiel kann es in einem Konzert helfen, Musik von Anton Webern zu verstehen, wenn man vorher ein pausendurchsetztes Stück des späten Beethoven gehört hat.»
An einem «Miteinander der grossen Werke der Musikgeschichte» war ihm alles gelegen. Er fürchtete, zumindest für Europa, den «Geist der Wiederholung», einen Mangel an Mut und Initiative. Den konnte man ihm wahrlich nicht vorwerfen. Pollini kombinierte in seinen Konzerten Chopins Préludes mit Beethovens Bagatellen und kurzen bis kürzesten Stücken der Schönberg-Schule zu einer Musikgeschichte im Mikrokosmos.
In den gemischten Programmen seines «Progetto Pollini» öffnete er das Repertoire über alle Grenzen hinweg, ergänzte sein Klavierspiel um Werke der Kammer-, Ensemble- und Chormusik und spannte einen weiten musikhistorischen Bogen über die Jahrhunderte von Monteverdi bis Stockhausen und von Josquin bis Boulez. «Für mich ist das völlig normal», bekannte Pollini, «die zeitgenössische Musik zusammen mit der alten Musik zu sehen, zu hören und aufzuführen.» Das empfangene Preisgeld der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung verflüssigte er in Kompositionsaufträge. Umgekehrt wurde Pollini mit Widmungen und Zueignungen bedacht, namentlich von seinem Landsmann Luigi Nono.
Absage an den Aktivismus
Gemeinsam mit Nono und dem Dirigenten Claudio Abbado hatte Pollini in den 1970er Jahren die Reihe «Musica/Realtà» ins Leben gerufen: Konzerte in Fabriken und Schulen, Diskussionen mit Arbeitern, öffentliche Proben, basisdemokratische Kulturarbeit, organisiert von den Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei. Für einen legendären Skandal sorgte Pollini, als er in Mailand zu Beginn eines Rezitals eine Protestnote gegen den Vietnamkrieg verlesen wollte und im allgemeinen Tumult das Podium verliess (sogar die Polizei musste einschreiten).
Später allerdings hat Pollini diese Phase des linken Aktivismus stark relativiert, ja beinahe in Abrede gestellt: «Ein Künstler kann sich gerade mit der Kunst, die er ausübt, hinreichend ausdrücken. Es ist nicht essenziell für ihn, das zu tun, was wir politisches Engagement nennen. Wenn er sich über seine Kunst hinweg engagieren will, ist das schön, aber er muss es nicht.»
Doch ein Bruch mit der Vergangenheit, mit der politisch beflügelten Kunst eines Pasolini, Moravia, Visconti, Antonioni, Berio, Maderna oder Manzoni, kam für ihn nicht infrage: «Es war eine grosse Blütezeit. Als hätte sich die italienische Kultur nach der Befreiung vom Faschismus plötzlich wieder aufgeschwungen.»
Diese Liebe zu Italien konnte ihm niemand nehmen, bei aller Verzweiflung über die späteren Wechselfälle in der Politik seines Landes. Was er jedoch absolut verabscheute, war Nationalismus jedweder Art, auch in der Kunst: «An eine italienische Schule glaube ich nicht, überhaupt nicht an nationale Schulen der Interpretation. Ich glaube nur an die starke geistige Welt der Persönlichkeit.»
Am Morgen des 22. März ist Maurizio Pollini im Alter von 82 Jahren gestorben, wie das Mailänder «Teatro alla Scala» mitteilt. Mit seinem Tod ist eine Welt versunken: eine leuchtende Sphäre der Kultur, der Intellektualität und des Gewissens.