Auf Betreiben des Künstlerehepaars Frida Kahlo und Diego Rivera gewährte Mexiko Stalins Widersacher Leo Trotzki 1937 Asyl. Später wandten sich die Künstler von dem Revolutionär ab.
Ein besorgter Leo Trotzki erreicht am 9. Januar 1937 mit seiner Frau Natalia an Bord des Frachters «Ruth» den mexikanischen Hafen Tampico. Seit er den Machtkampf um Lenins Nachfolge gegen Stalin verloren hatte und 1929 aus der UdSSR ausgewiesen wurde, sind die Eheleute vor dessen Agenten auf der Flucht: Türkei, Frankreich, dann Norwegen, wo sie Ende 1936 des Landes verwiesen werden. Nur Mexiko ist bereit, den Mann aufzunehmen, der die Weltrevolution des Proletariats predigt. Was erwartet ihn dort wohl?
Eine junge Frau in traditioneller mexikanischer Kleidung gehört zum Empfangskomitee: Frida Kahlo, deren Ehemann Diego Rivera Präsident Lázaro Cárdenas gedrängt hatte, Lenins Mitstreiter der Oktoberrevolution und Gründer der Roten Armee Asyl zu gewähren. Aus «revolutionärer Solidarität» hatte Cárdenas, der einst als General für die mexikanische Revolution gekämpft hatte, zugestimmt. Jetzt dürfen Frida, Trotzki und Natalia in seinem Präsidentenzug hinauf nach Mexiko-Stadt reisen.
Für die nächsten zwei Jahre wird die Casa Azul in Coyoacán ihr neues Zuhause sein, Fridas Elternhaus, in dem sie 1907 geboren wurde und 1954 starb. Damals eine Oase der Ruhe abseits der hektischen Hauptstadt, ist das historische Städtchen heute längst in Mexiko-Stadt aufgegangen.
Vor dem Frida-Kahlo-Museum im «Blauen Haus» werden heute Souvenirs mit Fridas Konterfei verkauft: «Frida-Kahlo-Kitsch», wie Kritiker sagen. Wer das Museum besuchen will, muss Wochen im Voraus Karten kaufen. Von Trotzkis Aufenthalt, für den Frida und Diego das Haus zu einer kleinen Festung ausbauen liessen, zeugt hinter den hohen Mauern nicht mehr viel.
Dafür sieht der Besucher Fridas Staffelei, ihren Rollstuhl und ihre Krücken, ihre Beinprothese in Form eines roten Stiefels und das Bett, in dem sie, seit frühester Kindheit durch Kinderlähmung und später durch einen Verkehrsunfall gezeichnet, einen Grossteil ihres Lebens verbringen musste. Und da ist die mit rotem Klebeband zusammengehaltene Ausgabe von Karl Marx’ «Das Kapital» sowie das mit Hammer und Sichel verzierte Gipskorsett der Künstlerin.
Als Schülerin begeisterte sich die Tochter eines deutschen Auswanderers und einer Mexikanerin für die Ideale der mexikanischen Revolution, die eine Phase nationaler Erneuerung und sozialer Reformen einleitete. Später behauptet sie, nicht 1907, sondern im Revolutionsjahr 1910 geboren zu sein.
Durch ihre Beziehung zu dem Freskenmaler Diego Rivera erhält sie Zugang zu kommunistischen Zirkeln. Rivera ist ein unverbesserlicher Schürzenjäger und erfindet gerne hanebüchene Geschichten, wie die, an Lenins Seite für die Oktoberrevolution gekämpft zu haben. Er gilt als Mexikos bedeutendster Künstler, und in seinen Wandmalereien finden sich Elemente sowohl der mexikanischen als auch der russischen Revolution. Zu deren 10. Jubiläum besucht er 1927 als Abgesandter der Kommunistischen Partei Mexikos die UdSSR.
Als er Stalin kritisiert und Sympathien für den in der UdSSR in Ungnade gefallenen Trotzki zeigt, wirft man ihn 1929 aus der Partei. Auch bei seinen kapitalistischen Auftraggebern eckt er an. Die Rockefellers sind «not amused», als er 1933 Lenin und Trotzki in das Fresko «Man at the Crossroads» im New Yorker Rockefeller Center malt.
Die USA sind Trotzkis Ziel
Für Trotzki und Natalia ist die Casa Azul eine Trutzburg in unruhigen Zeiten. Noch heute lädt der wunderschöne Innenhof voller Pflanzen und präkolumbianischer Kunst zum Verweilen ein. Abwechslung bieten Trotzki auch die Ausflüge mit Frida und Diego aufs Land. Der auf einem Bauernhof in der Südukraine aufgewachsene Revoluzzer ist begeistert von den gigantischen Kakteen, die er zu sammeln beginnt.
Im nahen Mexiko-Stadt fordern die von Stalin kontrollierten mexikanischen Kommunisten derweil Trotzkis Auslieferung nach Moskau, wo der Diktator gerade Gericht halten lässt über die alte bolschewistische Garde, die angeblich von Trotzki zu Stalins Sturz aufgewiegelt wurde. Einer nach dem anderen wird im Grossen Terror ausgelöscht.
Noch hält Präsident Cárdenas seine schützende Hand über Trotzki. Wirklich sicher vor Stalin wäre er wohl nur in den USA. Doch dort verweigert man ihm ein Visum. Um die amerikanische Öffentlichkeit für sich zu gewinnen, stellt sich Trotzki im März 1937 einer Untersuchungskommission unter Leitung des amerikanischen Philosophen John Dewey, die die gegen ihn in den Moskauer Schauprozessen erhobenen Vorwürfe prüfen soll.
Aus Sicherheitsgründen finden die Anhörungen in der Casa Azul statt. Auf alten Filmaufnahmen sieht man die zum Schutz mit Ziegelsteinen zugemauerten Fenster. Und Frida als elegante Gastgeberin. Wohl in jenen Tagen verliebt sich der 57-Jährige in die fast 30 Jahre jüngere Malerin.
Frida ist eine ungewöhnliche Frau. Die Kunst- und Philosophiebücher ihres Vaters hat sie auf Deutsch gelesen, und dank den Jahren, die sie mit Diego in den USA verbracht hat, spricht sie fliessend Englisch. Sie vereint knabenhafte Schönheit mit weiblicher Noblesse, provoziert aber gerne mit Gossensprache.
Was waren Fridas Motive für die Liaison? Ihre Biografin Hayden Herrera vermutet, dass Frida sich mit der Affäre mit dem berühmten Freund ihres Mannes für dessen ewige Untreue rächen wollte, die selbst vor ihrer eigenen Schwester nicht Halt machte. Sicherlich fühlte sie sich aber auch von den Avancen des spitzbärtigen Revolutionsführers geschmeichelt.
Um die Affäre vor Natalia zu verbergen, sprechen die beiden Englisch. Trotzki versteckt Liebesbriefe in Büchern, die er Frida gibt. Diego, der chronisch eifersüchtig ist und Rivalen mit dem Revolver bedroht, bemerkt nichts. Doch Natalia leidet und trennt sich für kurze Zeit von Trotzki.
Frida Kahlo, Fotografie von Guillermo Kahlo, 1932. Leo Trotzki, geboren als Lew Dawidowitsch Bronstein.
Die Affäre endet vermutlich im Juli 1937, die genauen Umstände sind unbekannt, da Trotzki die Liebesbriefe von Frida zurückverlangt und vernichtet. «Ich ertrage den Alten nicht mehr», vertraut diese einer Freundin an. Doch im November 1937 schenkt sie Trotzki eines ihrer Selbstbildnisse, unterschrieben «Mit aller Liebe».
Auf den alternden Revolutionsführer wirkt die Liaison belebend. Er schreibt Natalia einen Liebesbrief voller erotischer Phantasien – zum ersten Mal in seinem Leben, wie er beteuert.
Um die Jahreswende 1938/39 kommt es zum Bruch zwischen Trotzki und Diego, der eigene politische Ambitionen hegt. Sie möge ihren Mann zur Vernunft bringen, schreibt Trotzki in einem Brief an Frida, die sich in Paris aufhält. Für Trotzki ist die Situation gefährlich, hatte er doch Präsident Cárdenas versprechen müssen, sich aus der mexikanischen Innenpolitik herauszuhalten. Nun sieht es so aus, als würde er seinen Freund für seine politischen Zwecke missbrauchen.
Anfang 1939 zieht Trotzki in ein Haus am Stadtrand von Coyoacán, fünf Gehminuten von der Casa Azul entfernt. Damals von Wäldern und Wiesen umgeben, steht das «Museo Casa de León Trotsky» heute an der lärmenden Stadtautobahn, die über den Churubusco-Fluss gebaut wurde. Eine Ausstellung im Eingangsbereich ist Trotzkis Zeit mit Lenin gewidmet, in den Schlafräumen seiner Leibwächter berichtet ein Museumsführer über Stalins Rachefeldzug gegen Trotzkis Familie.
Die Tochter Sinaida nahm sich 1933 in Berlin das Leben, nachdem Stalin ihr die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt und sie so an der Rückkehr zu ihrer Familie gehindert hatte. Die Tochter Nina war bereits 1928 an Tuberkulose gestorben. Der Sohn Sergei wurde 1937 in einem sowjetischen Straflager hingerichtet, der Sohn Lew, die rechte Hand des Vaters, starb 1938 unter mysteriösen Umständen in Paris. Nur der Enkel Esteban entkam und lebte ab 1939 bei seinen Grosseltern in Coyoacán.
Das Haus ist im Originalzustand von 1940 erhalten. In Trotzkis und Estebans Schlafzimmer sind die Einschusslöcher des Attentats vom Mai 1940 zu sehen, als ein Kommando unter Führung des mexikanischen Malers und glühenden Stalinisten David Alfaro Siqueiros das Haus stürmte. Trotzki, der wie durch ein Wunder unverletzt blieb, liess das Haus danach in eine Festung verwandeln. Um die hohen Mauern herum wurden Wachtürme errichtet.
Aufgrund seiner engen Freundschaft mit dem Attentäter Siqueiros und seines Bruchs mit Trotzki wird Diego der Mittäterschaft verdächtigt. Er taucht unter und flieht in die USA. Dort erreicht ihn drei Monate später die Nachricht von einem zweiten Attentat auf Trotzki.
Über Monate hatte sich ein Mann, der sich als Jacques Mornard ausgab, das Vertrauen von Trotzkis engstem Kreis erschlichen. Bei einem Treffen unter vier Augen in Trotzkis Büro verletzt er diesen mit einem Eisbeil tödlich am Kopf. «Du Dummkopf bist schuld an seinem Tod, denn ohne dich wäre er nie hierher gekommen», beschimpft Frida Diego am Telefon.
Doch diesmal ist es Frida, die in Verdacht gerät. Sie hatte 1938 in Paris erstmals Kontakt mit dem späteren Mörder Trotzkis, den sie danach in Coyoacán noch zweimal zu sich nach Hause einlud. Doch aus Mangel an Beweisen lässt die Polizei Frida nach einem Tag wieder gehen. Dass Trotzkis Mörder in Wahrheit Ramón Mercader heisst und ein spanischer Sowjetagent ist, sollte die Welt erst Jahrzehnte später erfahren.
Frida und Diego verleugnen Trotzki
Hatten Frida und Diego etwas mit Trotzkis Tod zu tun? Als Diego Jahre später versucht, wieder in die Kommunistische Partei aufgenommen zu werden, brüstet er sich damit, Trotzki in Mexiko in eine Falle gelockt zu haben. Aber das war wohl eine seiner typischen Angebereien. Auch Frida äussert sich gegen Ende ihres Lebens abfällig über Trotzki. Er sei ein Feigling und Dieb gewesen, den Diego gegen ihren Willen aufgenommen habe. Aber da war sie schon süchtig nach Alkohol und Tabletten.
Ihre Drogenabhängigkeit ist wohl auch dafür verantwortlich, dass ihre Zuneigung zum Kommunismus in religiösen Eifer umschlägt. Ihre Bilder sind nun voll von marxistischen Symbolen. Neben dem Bild «Frida und Stalin» entsteht kurz vor ihrem Tod das Bild «Der Marxismus wird die Kranken heilen», auf dem Karl Marx den amerikanischen Adler würgt. Es hängt im Frida-Kahlo-Museum neben dem Lederkorsett, das sie zur Linderung ihrer Schmerzen tragen musste.
Korsette im Frida-Kahlo-Museum (unten). Frida Kahlo in ihrem Bett beim Malen (oben).
Frida plant noch eine Reise mit Diego in die Sowjetunion und nimmt Anfang Juli 1954 trotz einer Lungenentzündung an einem Protest gegen den Putsch der amerikanischen CIA gegen den Reformpräsidenten Guatemalas, Jacobo Árbenz Guzmán, teil. Im Rollstuhl sitzend hebt sie noch einmal kämpferisch die rechte Faust. Wenige Tage später stirbt sie an den Folgen einer Lungenembolie. Oder war es Selbstmord durch eine Überdosis?
Ihre Totenwache im Bellas-Artes-Palast von Mexiko-Stadt wird zum politischen Ereignis. Als eine rote Fahne mit Hammer und Sichel auf ihren Sarg gelegt wird, kommt es zum Eklat, der sich erst mit dem Eintreffen von Ex-Präsident Cárdenas legt. An der Totenwache nehmen neben prominenten Kommunisten auch Vertreter der russischen Botschaft teil. Einer der Sargträger ist der gescheiterte Trotzki-Attentäter Siqueiros.
Zu den Klängen der Internationale und des für Lenins Trauerfeier komponierten Marschs wird Frida eingeäschert. Die mexikanische Presse empört sich über die «russophile Farce». Doch Diego darf nach 25 Jahren endlich zurück in die Kommunistische Partei. Als Nikita Chruschtschow 1956 mit der Entzauberung Stalins beginnt, unterzieht sich Diego gerade in Moskau einer Krebsbehandlung. Sein letzter Wunsch, seine Asche möge mit der von Frida vermischt werden, bleibt unerfüllt.
Während Trotzki im Innenhof seines Hauses, umgeben von seinen geliebten Kakteen, neben Natalia und dem 2023 verstorbenen Enkel Esteban seine letzte Ruhestätte gefunden hat, ruht Fridas Asche 500 Meter entfernt in ihrem Schlafzimmer in der Casa Azul. Neben ihrem Bett hängen die Porträts ihrer Idole: Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao. Nur Leo Trotzki sucht man hier vergeblich.
Buchempfehlungen zum Thema
Als Standardwerk über Frida Kahlo gilt die 1983 veröffentlichte Biografie von Hayden Herrera: «Frida Kahlo. Ein leidenschaftliches Leben». Wer mehr über Leo Trotzkis Leben erfahren möchte, dem seien die Bücher von Isaac Deutscher zu empfehlen. Zu Trotzkis letzten Jahren hat Bertrand M. Patenaude ein gutes Überblickswerk veröffentlicht: «Trotsky: Downfall of a Revolutionary». Und in dem Roman «Der Mann, der Hunde liebte» erzählt der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura auf wunderbare Weise die Geschichte von Trotzki und seinem Mörder Ramón Mercader.