Der Starchoreograf erforscht in einer magischen Aufführung, wie wir mit Tod und Schmerz umgehen und was das über unsere Kultur aussagt.
Der Sand rieselt durch die Finger wie die Zeit. Er wird aus einer vollen Platte geschöpft, von Tänzer zu Tänzerin gereicht und fliesst in ihre leeren Teller. Bis alle etwas davon haben. Während im Hintergrund die Lichter der Toten durch die schwarze Nacht tanzen und die riesige marokkanische Lampe in den Himmel entschwindet. Ein visionärer Schluss für ein Stück von Verlust, Trauer, erinnertem Schmerz und eine Vision von Versöhnung.
Das neuste Werk, das der belgische Starchoreograf und Genfer Ballettdirektor Sidi Larbi Cherkaoui mit Tänzern aus seiner belgischen Kompanie Eastman im Grand Théâtre de Genève zur Uraufführung gebracht hat, ist ein Trauerritual um Sterben, Vergeben und Loslassen. In «Ihsane» vereint er Tänzerinnen und Tänzer aus vierzehn Ländern mit Musikerinnen und Musikern aus der arabischen und der westlichen Welt zu einer wundersamen Beerdigung, wie man sie einem geliebten Menschen fast nicht zu wünschen getraut.
Abwesend bei der Beerdigung des Vaters
«Ich muss meinen Vater beerdigen», sagt Sidi Larbi Cherkaoui in einem Gespräch mit der NZZ vor der Premiere. Er war neunzehn, als sein Vater starb, und hatte damals nicht mehr viel Kontakt mit ihm. Die Eltern waren seit vier Jahren geschieden, und er lebte bei der Mutter. Dass der Sohn den Preis für das beste Nachwuchs-Tanzsolo in Belgien gewonnen hatte, vernahm der Vater aus der Zeitung. Er muss stolz auf ihn gewesen sein. Sidi Larbi Cherkaoui weiss es von seinem Bruder. Dann starb der Vater. Seine Überreste wurden nach Tanger übergeführt und in der Heimat begraben. Der Sohn war nicht dabei. «Ich war ein Rebell. Ich brauchte das nicht: dass mir in Tanger alle sagen würden, was ich zu tun hatte.»
Es war für den jungen, aus muslimisch-katholischem Elternhaus stammenden Mann damals nicht leicht: Er war schwul, wollte Tänzer werden und ass kein Fleisch. Doch dass der Vater sich gegen seine Laufbahn als Tänzer gestellt hätte, sei zu kurz erzählt, sagt der Choreograf. Der Rebell gegen die Konventionen seiner Eltern ist heute, mit fast fünfzig Jahren, milder geworden und will die Konflikte aus seiner Jugend differenzierter sehen. «Mein Vater liebte den Tanz.» Die Eltern hatten sich in der Disco kennengelernt, und wann immer es ihnen gut ging, tanzten sie durchs Zimmer. «Aber mein Vater glaubte wohl, dass die Liebe zum Tanz mich nicht glücklich machen würde.»
Der Vater hatte in Tanger Trompete gespielt und wirkte als Schauspieler in Theaterproduktionen mit. «Er musste all das aufgeben, als er nach Belgien kam.» Die Mutter sang in einem Chor, strickte, machte Kleider. Die Familie liebte das Variété. «Wenn man mich vor zwanzig Jahren fragte, sagte ich: Meine Familie war nicht kunstaffin. Heute sehe ich, dass sie ihre künstlerischen Begabungen unter dem Deckel hielten, weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass man mit so etwas Geld verdienen könnte. Und weil das, was Leute wie sie machen, nicht als Kunst gilt.» Was Kunst sei und was nicht, werde unter anderem auch durch die Herkunft jener bestimmt, die sie produzierten und rezipierten.
«Mein Vater stammte aus einer Linie, die in Belgien gänzlich unbekannt war, nicht interessant und nicht relevant. Bis er mich hatte.» Der Sohn begann Kunst zu machen. Und er feierte schnell und weltweit Erfolge. «Doch ich bin nur eine Fortsetzung von ihm und meiner Mutter.» Das werde ihm mehr und mehr bewusst: «Wir sind ein fortlaufender Prozess dessen, was von unseren Vorfahren kommt. Ich habe seine Fackel weitergetragen, ob er sie mir nun geben wollte oder nicht.»
Die Aussage verdeutlicht, dass sich Sidi Larbi Cherkaoui auf neues künstlerisches Terrain begeben hat. Der Sohn einer katholischen flämischen Mutter und eines muslimischen marokkanischen Vaters, gebildet in Staats- und Koranschule, war schon immer unglaublich neugierig auf andere Kulturen und andere Tanztraditionen. Er hat mit Shaolin-Mönchen getanzt und mit der berühmten Flamenco-Tänzerin María Pagés, hat mit Tangueros gearbeitet, mit chinesischen Zirkusleuten, mit Hip-Hoppern und Ballerinen. Vor wenigen Jahren hat er angefangen, seine eigene Herkunft zu erforschen. Mit dem Stück «Vlaemsch (chez moi)» von 2022 erforschte er seine flämischen Wurzeln, die Welt der Mutter.
Nun geht er mit «Ihsane» den Spuren des Vaters nach. Das Wort «Ihsane» steht in Arabisch für ein Ideal von Güte, Wohlwollen, Liebenswürdigkeit, auch Perfektion und Schönheit. Sidi Larbi Cherkaoui versteht das als Humanismus avant la lettre. Doch er wäre nicht er, der Rebell und Bilderstürmer, würde sein «Ihsane» nicht die Verletzung des Ideals, die Umkehrung, mitmeinen. In Belgien wird der Begriff mit einem Verbrechen assoziiert, das als erster homophober Mord gesetzlich anerkannt wurde. Im April 2012 prügelten in Lüttich vier Männer den homosexuellen Araber Ihsane Jarfi zu Tode. Das rassistisch-homophobe Verbrechen hat 2017 bereits der Schweizer Regisseur Milo Rau unter dem Titel «La reprise. Histoire(s) du théâtre (I)» auf der Bühne verhandelt.
Durchtränkt von Trauer und Melancholie
Güte und Gewalt. Gewalt auch als Güte verbrämt? «Ihsane» beginnt mit einer Arabischklasse, in der gelacht wird, gesungen, in der aber auch einmal der Stock fällt. In diesem Stück kann die Stimmung plötzlich kippen. Eben noch hat sich das Ensemble zu einem Kreistanz gefunden, eben noch haben die Eastman-Tänzer mit ihren Bewegungen die orientalisch anmutenden Tänze des Genfer Balletts durcheinandergewirbelt – da wird in einer Ecke der Bühne einer verprügelt. Eben noch erschienen die Tiere in den Videos von Maxime Guislain als harmlose Schafe, dann wird einem Tänzerschaf die Kehle durchgeschnitten, und aus dem Hals quellen Würste von Blut. So, dass man das Ganze nur noch unter den Teppich kehren kann – unter Berge von Teppichen.
Das Stück ist durchtränkt von tiefer Trauer und Melancholie. Getragen wird es von der wunderschönen Musik des tunesischen Musikers Jasser Haj Youssef, durch den ergreifenden Gesang der Libanesin Fadia Tomb El-Hage und des Marokkaners Mohammed El Arabi-Serghini. Wie wir mit Tod und Schmerz umgingen und was das aussage über unsere Kultur, fragt der Künstler. Ausloten statt ausrasten, antwortet das Stück. Ausloten der Verbindungen zu den Ahnen, den Toten. «Ihsane» sei die Beerdigung, an der er in Tanger nicht teilgenommen habe, sagt Sidi Larbi Cherkaoui. Bereut er das noch immer? «Manchmal ja, manchmal nein. Wäre ich dabei gewesen, hätte ich dieses Stück nicht geschaffen.»