Israels früherer Armeechef droht mitten im Krieg damit, die Einheitsregierung zu verlassen. Trotz erbitterter Rivalität ist er Netanyahu ähnlicher, als man denkt. Wofür steht Benny Gantz?
Es gab eine Zeit, da überschlug sich Benjamin Netanyahu mit Lobeshymnen für seinen Namensvetter Benjamin Gantz. «Die Bürger Israels stehen tief in deiner Schuld, Benny», sagte der israelische Ministerpräsident 2015. Damals schied Gantz aus der Armee aus, nachdem er vier Jahre lang als Israels Generalstabschef gedient hatte. Netanyahu schenkte ihm zum Abschied ein Buch seines verstorbenen Bruders Yonatan. In seiner persönlichen Widmung schrieb er: «Mit grosser Anerkennung für deine Verdienste für die Sicherheit Israels und für deine Führung während einer sehr herausfordernden Zeit.»
Heute würden Netanyahu diese Worte nicht mehr über die Lippen kommen. Der Oppositionspolitiker Benny Gantz war zwar nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober in eine Einheitsregierung mit ihm eingetreten. Doch die beiden Männer vertrauen sich schon lange nicht mehr. Erst recht nicht, seit Gantz angekündigt hat, aus dem Kriegskabinett auszutreten, falls Netanyahu keinen Nachkriegsplan für den Gazastreifen vorlege. Am Samstag, dem 8. Juni, läuft das Ultimatum aus.
Gantz’ Kalkül ist klar. Er ist in der Bevölkerung beliebt, doch seine Zustimmungswerte sinken, während Netanyahus Stern inzwischen wieder steigt. Mit dem Austritt aus der Regierung will er den Boden für Neuwahlen bereiten. Gantz ist der einzige israelische Politiker, der eine realistische Chance hat, den Langzeit-Ministerpräsidenten abzulösen.
«Wir haben die Konsequenzen des Holocaust gelebt»
Zwei Dinge prägten Gantz bis heute, heisst es aus seinem Umfeld: seine Herkunft als Sohn von Holocaust-Überlebenden und seine Zeit im Militär. 1959, elf Jahre nach der Gründung des Staates Israel, wird Benny Gantz in Kfar Ahim geboren. Sein Vater Nahum war ein überzeugter Anhänger der Arbeiterpartei und Mitgründer einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, wo Gantz als Einzelkind aufwuchs.
«In dem Dorf, in dem ich geboren bin, lebten 57 Familien, die alle Holocaust-Überlebende waren», erzählte Gantz einmal in einem Interview. «Wir haben nicht über den Holocaust geredet, sondern die Konsequenzen des Holocaust gelebt.» Sein Umfeld habe ihn stark zionistisch geprägt, sagt er. «Eines Tages sass ich mit meinem Vater im Gras, und er fragte mich: ‹Mein Sohn, wenn wir, die dieses Land aufgebaut haben, und du als unser Kind, es nicht verteidigen – wer wird es dann tun?›»
Gantz nahm sich die Worte seines Vaters zu Herzen und wurde mit 21 Jahren Offizier. Drei Jahre darauf befehligte er eine Kompanie von Fallschirmjägern im ersten Libanon-Krieg. In militärischen Kreisen nennt man Gantz den «Prinzen», weil kaum einer so mühelos Karriere machte wie er. Schnell wurde er Brigadegeneral und machte sich einen Namen im Kampf gegen militante Palästinenser und später den Hizbullah.
Oft erzählt Gantz von einem Gespräch mit seiner Mutter Malka, die nur noch 31 Kilo wog, als sie aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit wurde. Als die Hamas in einer früheren Konfrontation mit Israel Raketen auf sein Heimatdorf schoss, rief Benny Gantz sie an.
«Ich bitte dich nur um eine Sache», sagte sie zu ihrem Sohn. «Beende die Kämpfe nicht, aber hör auch nicht auf, ihnen Nahrungsmittel zu schicken.» Diese Aussage sei zu seinem moralischen Leitstern geworden, sagte Gantz. Und sie verkörpert das, was Gantz den Israeli verspricht: Wenn ihr mich wählt, bekommt ihr einen General, der hart durchgreift, aber gleichzeitig nicht die Prinzipien vergisst, auf denen dieser Staat gegründet wurde – und der Politik macht ohne Skandale und Korruptionsvorwürfe, wie sie Netanyahu anhaften.
«Ein israelischer Patriot»
«Gantz vertritt keine Ideologie, er hat kein klares Programm», sagt Gideon Rahat an seinem Küchentisch in einem Vorort von Jerusalem. Der Politikwissenschafter vom Israel Democracy Institute steht laut eigenen Aussagen weiter links als Gantz. «Aber ich respektiere ihn», sagt Rahat. «Ich glaube, er ist ein wahrer israelischer Patriot.»
Im Gegensatz zu Netanyahu agiere Gantz nicht aus persönlichen Motiven, sondern weil er sich um die Zukunft Israels sorge. Das sei allerdings auch ein Nachteil: «Anders als Netanyahu hat Gantz keinen Killerinstinkt, er spielt keine politischen Spielchen.» Die Rücksichtslosigkeit gegenüber Institutionen und Abmachungen, die Netanyahu habe, gehe dem etwas schläfrig auftretenden 64-Jährigen ab.
Gantz verspreche den Israeli Härte gegenüber den Palästinensern, gepaart mit Pragmatismus, sagt der Politikwissenschafter. «Ihm ist klar, dass man hier im Nahen Osten eine geladene Waffe braucht, um zu überleben – aber auch einen Olivenzweig.»
In seinem öffentlichen Image spielte der Olivenzweig zunächst allerdings keine grosse Rolle. Im Januar 2019 kündigte der Vater von vier Kindern seinen Eintritt in die Politik an. Gleich zu Beginn stellte er klar, dass unter seiner Führung keine der grossen jüdischen Siedlungen im Westjordanland geräumt werden werde. Drei Jahre später sagte Gantz, zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern seien zwei «politische Einheiten» nötig, allerdings explizit kein palästinensischer Staat. In seinem Wahlkampf präsentierte sich Gantz vor allem als unnachgiebiger Krieger.
Gantz muss sich rechts positionieren
In den Wahlwerbespots waren zerbombte Häuser im Gazastreifen zu sehen, das Resultat der israelischen Militäroperation «Protective Edge» im Jahr 2014. Unterlegt von martialischer Musik, wird aufgezählt, wie viele Ziele die israelische Armee unter Gantz’ Führung zerstört hat und wie viele Terroristen getötet wurden. Am Ende wird der Slogan seiner Kampagne eingeblendet: «Gantz. Nur der Starke gewinnt.»
Laut ehemaligen Mitarbeitern von Gantz war dieses Image vor allem eine Idee seiner Kommunikationsberater und entspricht eigentlich nicht dem Stil des früheren Generals. Doch die Strategie ging auf: Aus dem Stand konnte Gantz’ Wahlbündnis 35 von 120 Sitzen in der Knesset gewinnen, genau so viele wie der Likud von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu.
«Wer in Israel heutzutage Wahlen gewinnen will, muss zeigen, dass er hart ist», sagt der Politikwissenschafter Rahat. «Rund 60 Prozent der israelischen Wähler bezeichnen sich als rechts – um zu gewinnen, muss Gantz die moderat rechten Wähler auf seine Seite ziehen.» Die anderen Wähler, die sich eher in der Mitte des politischen Spektrums einordnen, stimmten sowieso für den früheren General.
Der Graben zwischen «rechts» und «links» verläuft in Israel nahezu ausschliesslich entlang der Einstellung zum Konflikt mit den Palästinensern, Wirtschafts- und Sozialpolitik spielen keine grosse Rolle. Rechte Politiker setzen sich für militärische Härte ein, während die Linke diplomatische Lösungen hochhält. Gantz positioniert sich in Bezug auf den Nahostkonflikt ähnlich rechts wie Netanyahu.
Gantz befürwortete schon früh eine Rafah-Offensive
Es dauerte nicht lange, bis Gantz Regierungsverantwortung übernahm. Während der Corona-Krise ging der ehemalige General eine erste Einheitsregierung mit Netanyahu ein – obwohl er zuvor eine Kooperation mit dem «kriminellen» Ministerpräsidenten ausgeschlossen hatte. Der frühere Armeechef begründet die Kehrtwende damit, dass in der Pandemie das Interesse des Landes über parteipolitische und persönliche Erwägungen gestellt werden müsse.
Netanyahu und Gantz einigten sich darauf, die Macht zu teilen: Nach achtzehn Monaten sollte Netanyahu den Posten des Ministerpräsidenten an Gantz abgeben. Doch Bibi, wie der Likud-Chef in Israel genannt wird, trickste Gantz aus und führte Neuwahlen herbei, bevor es zur Rotation kam.
Obwohl er Netanyahu seither nicht mehr über den Weg traut, liess Gantz sich nach dem 7. Oktober erneut auf eine Einheitsregierung ein. So ist der frühere General nun neben Verteidigungsminister Yoav Gallant und Netanyahu einer der drei Männer, die alle kriegswichtigen Entscheidungen treffen. Der Krieg hat für ihn auch eine persönliche Komponente: Einer seiner Söhne kämpfte früh als Reservist im Gazastreifen.
Auch im Kriegskabinett hat ihn offenbar die Bitte seiner Mutter geleitet. Vor wenigen Tagen veröffentlichten israelische Medien einen Brief von Gantz, den er bereits Anfang März dem Kriegskabinett vorgelegt hatte. Darin stellte er klar, dass Israel einen existenziellen Krieg führe, ein Einmarsch in Rafah sei daher notwendig, um die Hamas komplett zu zerschlagen. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass Israels Unvermögen, genug humanitäre Hilfsgüter in den Gazastreifen zu liefern und eine Alternative zur Hamas-Regierung zu etablieren, den militärischen Erfolg bedrohe.
Nur Gantz könnte Netanyahu schlagen
Doch seine Forderungen stiessen auf taube Ohren. Personen, die ihn kennen, sagen, Benny habe den Glauben daran verloren, die Regierungspolitik noch positiv beeinflussen zu können. Zu stur sei Netanyahu, zu engstirnig auf das eigene politische Überleben statt auf die nationalen Interessen fokussiert. Das sei ein Grund für Gantz’ Ultimatum, sagt Reuven Hazan, Politikwissenschafter an der Hebräischen Universität Jerusalem. «Allerdings zahlt Gantz auch einen politischen Preis, wenn er in der Regierung bleibt: Seine Partei hat in den Umfragen stark verloren, während Netanyahu – ironischerweise – zulegen kann.»
Nun, da ein Vorschlag für einen Waffenstillstand und eine Befreiung der Geiseln auf dem Tisch liegt, soll Gantz laut Medienberichten erwägen, doch in der Regierung zu bleiben. So oder so, die Tage der Einheitsregierung sind gezählt. Doch das heisst nicht, dass Netanyahu gehen muss. Auch ohne Gantz hat die rechts-religiöse Koalition eine Mehrheit von 64 Sitzen in der Knesset.
«Obwohl es keine automatischen Neuwahlen geben wird, erhöht Gantz den Druck auf die Regierung», sagt Reuven Hazan. «Die Demonstrationen in Israel werden grösser werden, und die Menschen werden gegen eine Regierung auf die Strasse gehen, die ihre Legitimität verloren hat. Diese Regierung wird keine weiteren zwei Jahre überleben, das ist klar.» Regulär wird in Israel im Herbst 2026 das nächste Mal gewählt. Sollten die Israeli früher zur Urne gerufen werden, geht der Politikwissenschafter Hazan von einem knappen Rennen zwischen Netanyahu und Gantz aus.
Auch wenn unter Netanyahus Führung die Hamas das grösste Massaker an Juden seit dem Holocaust begehen konnte, hat er noch Vorteile. «Likud-Wähler sind sehr treu, während Gantz’ Partei erst seit wenigen Jahren existiert», sagt Hazan. Auch ist laut dem Politikwissenschafter unklar, ob sich Gantz’ Austritt politisch auszahlt: «Es sieht nicht gut aus, eine Einheitsregierung mitten im Krieg zu verlassen.» Israels Wähler seien zudem nach dem 7. Oktober noch weiter nach rechts gerückt. Ein Ende der Ära Netanyahu ist nicht ausgemacht. Doch wenn jemand dieses Ende herbeiführen kann, dann ist es Benny Gantz.