Die Bündner Staatsanwaltschaft hat eine Strafuntersuchung wegen fahrlässiger Tötung eingeleitet. Beim Bergsturz 2017 waren acht Wanderer ums Leben gekommen. Ein neues Gutachten kommt zum Schluss, dass die Wanderwege hätten geschlossen werden müssen.
Sechseinhalb Jahre ist es her, dass beim Bergsturz von Bondo acht Berggänger ums Leben kamen. Ihre Leichname konnten bis heute nicht geborgen werden, sie liegen unter bis zu zwanzig Metern Geröll verschüttet. Die Angehörigen warten weiter auf eine saubere juristische Aufarbeitung. Diese nimmt nun Fahrt auf, denn die Bündner Staatsanwaltschaft hat eine Strafuntersuchung wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung eröffnet. Dies teilte der Kanton Graubünden am Mittwoch mit. Zuvor hatte der «Beobachter» darüber berichtet.
Das Verfahren richtet sich laut Angaben des Kantons gegen zwei Mitarbeiter der kantonalen Verwaltung sowie eine Person, die im Auftrag des Kantons Graubünden tätig war. Für die betroffenen Personen gilt die Unschuldsvermutung. Laut «Beobachter» handelt es sich um zwei Mitarbeiter des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN) sowie einen externen Geologen, die an der Beurteilung der Gefahrenlage vor dem Bergsturz beteiligt waren. Das AWN hatte vierzehn Tage vor dem Unglück empfohlen, die Wanderwege nicht zu sperren.
«Die Folgen des Bergsturzes sind sowohl für die Angehörigen der acht Todesopfer wie auch für die betroffenen Mitarbeitenden belastend», schreibt der Leiter des Amts für Wald und Naturgefahren, Urban Maissen, am Mittwoch in einer Mitteilung. «Unser Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen, die beim Bergsturz ihre Familienangehörigen verloren haben.» Die kantonale Verwaltung habe grosses Interesse, dass das Verfahren rasch vorangetrieben werde und für alle Betroffenen Klarheit geschaffen werden könne. Dazu werde sie mit der dafür notwendigen Unterstützung beitragen.
Zudem werden laut «Beobachter» auch die FDP-Nationalrätin Anna Giacometti, die damals Leiterin des Krisenstabs war, und ein weiterer Vertreter der Gemeinde Bregaglia als Beschuldigte aufgeführt. «Ich habe vom Entscheid der Staatsanwaltschaft Graubünden Kenntnis genommen und bin selbstverständlich bereit, an der Strafuntersuchung mitzuwirken», schreibt Giacometti auf Anfrage.
Dass das Verfahren erneut aufgerollt wird, hat massgeblich mit dem neuen, unabhängigen Gutachten eines Westschweizer Geologen zu tun. Thierry Oppikofer kommt in seinem im Dezember 2023 vorgelegten Gutachten zum Schluss, dass sich der Bergsturz «durch zahlreiche Vorboten angekündigt» habe. Die Wanderwege hätten geschlossen werden müssen. Radarmessungen, die zwei Wochen vor dem Unglück durchgeführt worden seien, hätten eine deutliche Veränderung am Piz Cengalo gezeigt. Gemäss den Messungen habe sich der Fels fast dreimal so schnell wie im Jahr zuvor gezeigt.
Laut dem Gutachten, das dem «Beobachter» vorliegt, hatte es am unruhigen Berg in den letzten beiden Wochen vor dem Sturz rund vierzig Stürze gegeben. Laut Oppikofer musste das nicht zwangsläufig zu einem Bergsturz «in den nächsten Tagen» führen, doch konnte dies nicht ausgeschlossen werden.
Oppikofer kommt damit zu anderen Erkenntnissen als das AWN, das den Bergsturz als nicht vorhersehbar bezeichnete. Eine erste Strafuntersuchung war daher 2019 eingestellt worden. Die Angehörigen der Opfer haben jedoch 2021 vor Bundesgericht erwirkt, dass die Staatsanwaltschaft weiter ermitteln muss. Das Gericht rügte, dass sich die Justiz nicht allein auf eine Feststellung der Behörden hätte verlassen dürfen.
Wie dem «Beobachter» zu entnehmen ist, konnten alle Parteien bis vor einer Woche Stellung zu Oppikofers Gutachten nehmen. Die beiden AWN-Mitarbeiter sowie der externe Geologe übten Kritik und verlangten laut «Beobachter» eine Einstellung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft entschied sich aber, die Strafuntersuchung zu eröffnen. Zunächst wird sie alle Beschuldigten befragen. Danach entscheidet sie, ob sie Anklage erhebt oder das Verfahren doch einstellt.