Der 23-jährige Brasilianer Vinícius Júnior durchläuft bei Real Madrid eine spektakuläre Metamorphose. Er wird vom kopflosen Zauberer zum kompletten Angreifer.
Bei Real Madrid plagen sie sich vor dem Champions-League-Final am Samstag (21 Uhr) mit Luxusdebatten herum. Der Rekordsieger der Königsklasse könnte diesen Pokal zum 15. Mal gewinnen und demonstriert Selbstvertrauen. In Madrid sprachen sie in letzter Zeit deshalb weniger über den Gegner Borussia Dortmund – und vielmehr darüber, welcher Real-Spieler den Goldenen Ball des Weltfussballers erhalten soll.
«Diese Saison ist es ein Duell zwischen Vinícius Júnior und Jude Bellingham», sagt der Real-Trainer Carlo Ancelotti, derweil Vinícius noch einen weiteren Mitspieler nennt: «Ich könnte damit leben, die Champions League und die Copa América zu gewinnen und dass dafür der Goldene Ball an Toni Kroos geht, weil er ja aufhört.»
Bei den Buchmachern wird Vinícius als Favorit geführt. Am Samstag in London wird er der einzige Spieler sein, der schon in einem Champions-League-Final getroffen hat – 2022 beim 1:0-Sieg gegen Liverpool. In dieser Saison zeigte Vinícius besonders im Halbfinal gegen Bayern München brillante Darbietungen. Auswärts erzielte er zwei Tore, im Heimspiel habe er die Sterne vom Himmel gespielt, sagt der Coach Ancelotti.
Bei den Entscheidungen vor dem Tor gibt er zunächst eine traurige Figur ab
Der Teamkollege Bellingham sagt: «Vinícius ist nicht zu verteidigen.» Tatsächlich gibt es keinen anderen Angreifer, auch nicht den wohl künftigen Real-Mitspieler Kylian Mbappé, der so zuverlässig den Unterschied macht wie der 23-Jährige aus Porto da Rosa, einem armen Viertel nahe Rio de Janeiro. Dort schlief Vinícius einst mit sieben Familienmitgliedern in einem Zimmer, ehe er in die Akademie von Flamengo eintrat.
Der Aufstieg von Vinícius ist bemerkenswert. Nachdem er nach seinem 18. Geburtstag bei Real Madrid aufgeschlagen war – verpflichtet worden war er schon mit 16, für 45 Millionen Euro –, waren seine Anlagen und seine Dribbelkünste zwar sofort zu sehen. Aber bei Entscheidungen auf dem Platz und besonders vor dem Tor gab er eine traurige Figur ab. Am Tiefpunkt im Herbst 2020 raunte Reals damaliger Stürmer Karim Benzema dem Mitspieler Ferland Mendy zu: «Passe nicht zu dem, der spielt gegen uns.»
Benzema meinte damit Vinícius – doch dieser hat seither eine Metamorphose durchlaufen. Erzielte er in seinen ersten drei Real-Saisons 3, 5 und 6 Tore, hat er seither 22, 23 und in dieser Saison erneut 23 Mal getroffen. In zwei Spielzeiten kamen dabei über 20 Assists hinzu. Aus einem kopflosen Zauberer ist ein kompletter Angreifer geworden.
Vinícius ist für die Gegenspieler eine Nervensäge
Heute vereint Vinícius Technik, Tempo und Kreativität in bester brasilianischer Manier. Von selbst ist der Aufstieg nicht gekommen. Vinícius gilt als offen für die Korrekturen des Trainers und hat in Extratrainings mit privaten Analysten und Fitnesscoaches an allen Aspekten des Spiels gearbeitet. Heute weiss er genau, wann er welchen Lauf zu starten, welchen Pass zu spielen und welchen Abschluss zu wählen hat. Fussballerisch hat er kaum noch etwas zu verbessern.
Beim Rest scheiden sich die Geister. Vinícius zeigt sich einerseits als mutiger Vorkämpfer gegen Rassismus, nachdem er in Spaniens Stadien wiederholt von den Tribünen diskriminiert worden ist. Damit hat er Sensibilität geweckt, die so weit ging, dass ihm kürzlich ein Freundschaftsspiel zwischen Spanien und Brasilien gewidmet wurde.
Andererseits nervt er die Gegner derart mit Unsportlichkeiten, dass ihm Mallorcas Captain Antonio Raíllo vorhielt, einen «Rassismus-Joker» als Freibrief zu nutzen. «Alle treten nach mir. Aber es stimmt schon, dass auch ich kein Heiliger bin», sagt Vinícius. Dabei kann man es im Vorfeld des Champions-League-Finals belassen – und einfach den Fussball des Vinícius Júnior geniessen.