Die Stadt Zahlé in der Bekaa-Ebene gilt als Aussenposten der libanesischen Christen. Während in der Nachbarschaft die Bomben fallen, wird sie zum Sammelpunkt Tausender Flüchtlinge.
Die Männer im Café Najar in der Stadt Zahlé im Osten Libanons wollen nicht reden. Jetzt sei nicht der Zeitpunkt dafür, brummt ein massiger Typ mit schwarzem Bart und Oberarmen so dick wie Pferdeschenkel. Um den Hals baumelt ein Kreuz. Die Gesichtszüge sind hart. Seine Freunde, die mit ihm um einen Tisch mit vollen Aschenbechern sitzen und Shisha rauchen, sind ebenso muskulös – und genauso abweisend.
Sie sehen alle aus wie die typischen Parteigänger der Libanesischen Kräfte (LF) – der stärksten Christenpartei von Libanon, die vor allem bei einfachen Leuten tief verwurzelt ist. Normalerweise halten sich die Anhänger dieser zur Partei gewandelten ehemaligen Miliz kaum zurück, wenn es darum geht, seine Meinung kundzutun. Vor allem wenn es um den Hizbullah geht – die von Iran unterstützte Schiitenmiliz, welche viele LF-Anhänger mit Inbrunst hassen.
Aber jetzt, da ihr Erzfeind im Krieg gegen Israel eine Demütigung sondergleichen hinnehmen musste und möglicherweise mit dem Rücken zur Wand steht, hat die Führung der Partei ihrem Fussvolk einen Maulkorb verpasst. Man rede derzeit nicht, sagt ein Sprecher des Parteichefs Samir Geagea. Zu unklar sei die Lage. Der Zeitpunkt dazu werde noch kommen.
Angst, unter die Räder zu kommen
Auch mehrere Tage nach dem Tod des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah, der alles bestimmenden Figur der libanesischen Politik, wirkt das Land wie gelähmt. Vom machtlosen Ministerpräsidenten bis hin zum Taxifahrer fürchten sich alle vor dem, was kommen wird. Vor allem die Christen haben Angst, einmal mehr unter die Räder zu kommen. Die meisten von ihnen wollten diesen Krieg nicht. Jetzt müssen sie machtlos mit ansehen, wie ihr Land untergeht.
In Zahlé ist das ganz besonders spürbar. Die Stadt am östlichen Rand des Libanon-Gebirges, die sich vom Ende eines engen Tals aus wie ein Flussdelta in die Bekaa-Ebene ergiesst, gilt als letzter Aussenposten der libanesischen Christenheit. In der topfebenen Landschaft dahinter wechseln sich meist Schiiten- und Sunnitendörfer ab, die immer wieder zum Ziel israelischer Luftangriffe werden. Das knapp fünfzig Kilometer entfernte Baalbek ist der Gründungsort des Hizbullah. Und jenseits der kargen Berge des Antilibanon liegt Asads Syrien.
«Zahlé war immer schon auf sich allein gestellt», sagt Assad Zogaib, der Bürgermeister, der im ersten Stock eines palastähnlichen Gebäudes sitzt und während des Gesprächs eine dicke Zigarre raucht. Wegen ihrer exponierten Lage hätten die Bewohner ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt: «Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten. In unserer Stadt herrscht Sauberkeit und Ordnung.»
Tatsächlich ist Zahlé eine blitzblanke Stadt – ganz im Gegensatz zu den ärmlichen, heruntergekommenen Dörfern in der Bekaa. Es gibt eine Filiale von Dunkin’ Donuts, frisch geteerte Strassen, sauber geschnittene Bäume und Cafés, wo man am Ufer eines sprudelnden Bergbaches sitzen kann. Zudem produziert Zahlé als einzige Stadt im wirtschaftlich völlig kaputten Libanon seine eigene Elektrizität und hat fast immer Strom.
Zahlé gilt als Heldenstadt
Die Eigenständigkeit habe mit der Geschichte zu tun, so Zogaib. Die isolierte Stadt sei immer wieder angegriffen worden. Zuletzt 1980, während des Bürgerkriegs, als die syrische Armee im Verbund mit Palästinensern versuchte, die Christenhochburg am Rand der Bekaa zu erobern. Milizionäre der christlichen Phalange trieben in harter Fronarbeit eine Militärstrasse über die verschneiten Berge, um die belagerte Stadt erfolgreich zu verteidigen. Seither gilt Zahlé als christliche Heldenstadt.
Jetzt ist Zahlé erneut vom Krieg bedroht. Aber diesmal sind es nicht syrische Panzer, die auf das Tal zurollen, sondern die Autos verzweifelter Flüchtlinge aus den Dörfern der Bekaa, wo Israels Luftwaffe gnadenlos Jagd auf den Hizbullah macht und versucht, dessen Nachschublinien ins nahe Syrien zu unterbrechen. Rund 15 000 Menschen sind inzwischen in Zahlé gestrandet. Sie kommen in Schulen unter, aber auch in öffentlichen Parks, wo sie unter den Bäumen im Gras schlafen.
Er sei hergekommen, weil die Christenstadt als sicher gelte, erzählt Zein Abed Hamed, ein sunnitischer Automechaniker aus dem nahe gelegenen Ort Riyak, der in der Nacht unter freiem Himmel schläft. «Bei uns sind nächtelang Bomben gefallen, wir haben Angst zurückzugehen.» Tatsächlich sind die christlich dominierten Gebiete neben denjenigen der kleinen Drusensekte die derzeit einzigen sicheren Regionen Libanons.
Weder in Ostbeirut noch in den Bergen nördlich davon – wo das Herzland der zumeist maronitischen Christen Libanons liegt – oder in Zahlé sind bisher Bomben niedergegangen. Stattdessen werden diese Gegenden nun zum Zufluchtsort für die inzwischen eine Million Vertriebenen. Mancherorts werden sie mit offenen Armen empfangen. Aber es geht auch Angst um. Denn viele fürchten, dass unter den Flüchtlingen auch Hizbullah-Mitglieder sein könnten.
Zerstritten und schwach
Man wolle die Kämpfer nicht hier haben, das sei zu gefährlich, sagt Joseph, ein alter Mann im Hauptquartier der Kataeb in Zahlé – einer weiteren, traditionellen Christenpartei. Aber in der Stadt wurde angeblich vorgesorgt. «Bei uns wissen wir ganz genau, wer kommt. Wenn Hizbullah-Mitglieder dabei sind, dann rufen wir den Militärgeheimdienst, der sie sofort wegschickt», erzählt er.
Inzwischen hat die sonst völlig passive libanesische Armee ihre Soldaten auf die Strasse geschickt. In Beirut stehen mancherorts an den Eingängen zu den Christenvierteln Schützenpanzer. Viele der Bewohner beobachten die Ankunft der zumeist schiitischen Flüchtlinge mit einem mulmigen Gefühl. Libanons Christen fürchten seit je, verdrängt zu werden. Manche Beobachter sehen daher die Gefahr von inneren Unruhen heraufziehen, sollte der Krieg länger andauern.
Die Christenparteien scheinen von den Ereignissen derweil komplett überrascht. Viele ihrer Politiker haben sich seit Nasrallahs Tod kaum geäussert. Manche von ihnen waren mit dem Hizbullah ein pragmatisches Bündnis eingegangen. Andere hingegen hatten die Truppe politisch bekämpft. Viel ausrichten können die zerstrittenen und schwachen Christen gegen den Hizbullah aber bis heute nicht. Zu stark ist die nach wie vor schwer bewaffnete Miliz.
Zudem fürchten viele christliche Politiker, als Verräter dazustehen, und halten sich auch deshalb zurück. Denn Libanons Christen hatten in den siebziger und achtziger Jahren gemeinsame Sache mit dem israelischen Erzfeind gemacht – in der Hoffnung, so im Bürgerkrieg gegen Palästinenser und muslimische Linke die Oberhand zu behalten. Als Zahlé 1980 belagert wurde, waren es auch israelische Kampfjets, welche die syrischen Panzerkolonnen in Stücke schossen.
«Wir müssen aus den Fehlern lernen»
Doch das Bündnis zerbrach. Inzwischen trauen viele Christen den Israeli nicht mehr über den Weg und sind ebenso geschockt und empört über die Zerstörung und die gewaltigen Flüchtlingsströme im Land. Eigentlich bleibe einem nichts anderes übrig, als für Libanon zu beten, sagt Butros Rahme, der als Mönch in einem Kloster in Zahlé lebt. Der Gottesmann lächelt gütig und weist auf ein Bild des heiligen Charbel, des Schutzpatrons von Libanon, welches im Gemeindehaus an der Wand hängt. «Nur er kann uns jetzt helfen», sagt er.
Gleichzeitig hat der Tod Nasrallahs bei vielen Christen, die wie die Mehrheit der Libanesen auf ein schnelles Kriegsende hoffen, aber auch Erleichterung ausgelöst. Doch die meisten wollen das in diesen unsicheren Zeiten lieber nicht zeigen. Er rede jetzt bestimmt nicht über Politik, sagt Aissam al-Fahel, ein stämmiger Mann mit Glatze vor einer offenen Garage an einem Hang hoch über Zahlé. «Angesichts der schrecklichen Lage geht es jetzt nur darum, zu helfen.»
Fahel koordiniert die Arbeit einer lokalen Hilfsorganisation, die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Essen versorgt. Es fehle an vielem, aber die Leute würden spenden und mit anpacken. Es sei jetzt an der Zeit, als Libanesen zusammenzustehen, findet auch Zogaib, der Bürgermeister. «Nur so können wir das Land retten. Wir müssen endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.» Zahlé könne dafür ein Beispiel sein, glaubt er. Denn 1980, während der Belagerung, hätten nicht nur Christen für ihre Stadt gekämpft, sondern auch die muslimischen Einwohner.