«Twelve Final Days» war als persönliches Souvenir gedacht. Jetzt hat der frühere Tennisstar das Material zur Veröffentlichung freigegeben. Taschentuch-Alarm.
Die Kleenex sind griffbereit. Roger Federer will es hinter sich bringen. Er hoffe, dass er die Taschentücher nicht brauchen werde, sagt der abdankende Tennisstar, während man auf dem Tisch vor ihm das Mikrofon installiert. «Aber ich bin ein emotionaler Typ.» Tränen wären nicht verwunderlich an diesem 14. September 2022: Roger Federer nimmt die Rücktrittserklärung auf, die er tags darauf auf Instagram veröffentlichen wird.
Den Moment festgehalten hat Asif Kapadia in «Twelve Final Days». Der Dokumentarfilm fokussiert Federers letzte Tage als Tennisprofi. Von der Ankündigung des Karriereendes bis zum letzten Gang zurück in eine Garderobe (beim Laver Cup in London) hat der britische Regisseur den Schweizer begleitet. Roger Federer: das Outro.
Der Film sei ursprünglich als Homevideo gedacht gewesen, liess Federer im Vorfeld verlauten. Er hat bei Kapadia, diesem Oscar-prämierten Spezialisten für Biografisches («Amy», «Senna»), ein Souvenir in Auftrag gegeben. Aber wer kennt es nicht: Man ist so stolz auf das Familienalbum, dass man es am liebsten der ganzen Welt zeigen würde? Wieso also nicht raus an die Öffentlichkeit damit?
Man schaut aus Voyeurismus
Im Material ist nichts, was Federers Privatsphäre verletzen könnte. Klar ist das zunächst einmal enttäuschend. Denn man schaut so eine cineastische Homestory ja auch aus profanem Voyeurismus: Ein Star stellt in Aussicht, sich so privat wie noch nie zu zeigen. Der Fan verspricht sich Momente, die ihm das Idol noch nahbarer erscheinen lassen. Aber auch wenn Asif Kapadia «full access» zu Federer gehabt haben sollte: Alle Beteiligten sind leider bemüht, es nicht zu übertreiben mit dem Vorstoss ins Privatleben.
Der Zuschauer bekommt immerhin dosiert Einblicke in das Leben eines normalsterblichen Tennisgottes. Federer kurz mit den Kindern; Federer vertraut mit Mirka; Federer süss mit Hund (Kreuzung aus Labrador Retriever und Grosspudel). Aus Sicht des Fans ist das nicht nichts. Wer sich interessiert, findet alles interessant.
Haben wir hier die Aussicht aus Federers Wohnzimmer über dem Zürichsee? Ruft wirklich gerade Anna Wintour bei Federers Manager an, um ihm zu sagen, wie sehr sie Rogers Rücktritt schmerzt? Oder dann darf man beim finalen Auftritt sogar mit hinein in die Umkleide, wo King Roger gerade die Socken hochzieht!
Hanebüchen? Ja, aber je hanebüchener, desto besser. Am schönsten sind die Szenen, in denen sich die Tragweite des Moments maximal lapidar auflöst. Konkret: Federer will seine Rücktrittsrede auf Instagram posten, aber zuerst muss er noch seine Frau finden. «Mer müend nur schnell poste», ruft er die Gattin herbei, die im Nebenzimmer verschwunden ist. «Chum, mache mer schnell.»
Natürlich ist es banal
Ist das nun ein guter Film, und spielt es überhaupt eine Rolle? Roger Federer funktioniert immer, filmisch ist die Herausforderung ohnehin minimal: Man kann auch jederzeit ein paar seiner staunenswerten Schläge zu einem Clip montieren, mehr braucht es nicht. Es gibt nie einen Grund, sich einen Film über Roger Federer nicht anzuschauen. So banal er auch ist. Und natürlich ist auch dieser hinlänglich banal.
Roger Federer ist ein Tennisspieler. Auf die Gefahr hin, sich der Majestätsbeleidigung schuldig zu machen: Wie so ziemlich jeder andere Sportler auch hat Federer noch selten einen substanziellen Satz gesagt. Das ist nicht nur ihm anzulasten: Der Respekt vor Federers sportlicher Leistung ist so gross, dass er in seiner fast ein Vierteljahrhundert währenden Karriere kaum mit nennenswerten Fragen behelligt wurde (etwa zu seinem Winterwohnsitz im homophoben Dubai).
Dem Hausfotografen Asif Kapadia kommt es naturgemäss nicht im Entferntesten in den Sinn, einen kritischen Blick auf Federer zu werfen. Entsprechend sind diese «Twelve Final Days» denkbar unbedenklich. Noch das Strittigste daran ist, wie man vom Rücktrittsschreiben am 14. September bis zum letzten Spiel am 23. September auf die titelgebenden zwölf Tage kommt.
Aber das ist nicht matchentscheidend. Worauf es Kapadia ankommt, sind die Emotionen. Er legt «Twelve Final Days» als «weepy» aus, als Rührstück. So viel sei verraten: Federer hat im Kampf gegen die Tränen nicht den Hauch einer Chance. Aber auch Nadal schüttelt es kräftig durch beim Abschiedsturnier in London. Ja man glaubt sogar Rogers Nemesis Novak Djokovic kurz ein bisschen weinen zu sehen. Und selbst die toughe Mirka Federer bricht am Ende völlig ein. Der Film läuft zunächst in Zürich im Kino, bevor er kommende Woche auf Amazon aufgeschaltet wird. Hier wie da sollte der Zuschauer die Kleenex griffbereit haben.