Mehr Geschichtsunterricht, vor allem in europäischer Geschichte: Das sieht die Bildungsreform der italienischen Regierung vor. Die Pläne stossen bei der Linken auf harsche Kritik. Zu Unrecht.
Giorgia Meloni weiss, was sie will. Und sie scheut sich nicht, es klar zu sagen. Auf die Gefahr hin, nicht allen zu gefallen. Das ist ihr sogar recht, gefallen will die italienische Ministerpräsidentin nämlich nicht. Vor allem nicht der Linken. In ihrer Autobiografie «Io sono Giorgia» hat sie das fast zum Prinzip ihres politischen Handelns erklärt.
Was ihre geplante Bildungsreform betrifft, kann sich Meloni bestätigt fühlen. Die Leitlinien zur Neugestaltung der Lehrpläne, die das Bildungsministerium vorgelegt hat, stossen bei der Linken auf einhellige Ablehnung. Die Pläne sehen im Unterricht mehr Geschichte vor, vor allem Geschichte Italiens und Europas. Mehr Sprach- und Literaturkunde, Musik. Latein soll als Wahlfach wiedereingeführt werden.
Die Sozialdemokraten sind entsetzt, die Kommunisten beunruhigt: zu viel Athen, Rom, Perikles und Caesar, zu wenig Islam, China und afrikanische Kulturen. Die kommunistische Zeitung «Il Manifesto» kritisiert, dass an den Schulen künftig nur noch die «Geschichte der Weissen» gelehrt werden solle. Sie stört sich an einer Bemerkung, mit der das Kapitel über das Fach Geschichte beginnt.
Die ersten Lehrer
«Nur der Westen kennt Geschichte», heisst es da. Dann wird der französische Historiker Marc Bloch zitiert: «Die Griechen und Römer, unsere ersten Lehrer, waren Menschen, die Geschichte schrieben. Das Christentum ist eine Religion der Historiker.» Das reichte aus, um in Italien einen Sturm der Entrüstung zu entfesseln: Mit diesem Satz werde allen Kulturen ausser der europäischen attestiert, unhistorisch zu sein, meinten Historiker und Bildungsexperten. Das sei eurozentrisch, kolonialistisch und gefährlich. Dumm sowieso.
Es hätte genügt, einen Satz weiter zu lesen, um zu sehen, dass die Kritik ins Leere stösst. «Das bedeutet keineswegs, dass andere Gesellschaften und Kulturen nicht auch eine Geschichte und Wege hatten, sie zu erzählen», wäre da zu lesen. Dann wäre auch deutlich geworden, worum es den Verfassern ging. Darum nämlich, eine Eigentümlichkeit der westlichen Kultur zu charakterisieren: dass sie sich selbst historisch begreift. In dem Sinn, dass sie ihre Geschichte nicht nur festhält und bewahrt. Sondern sich aus ihr heraus legitimiert.
Auch das ist nicht auf den Westen beschränkt. Aber dass Geschichte nicht einfach als Verpflichtung verstanden wird, der man zu folgen hat, sondern als Aufgabe, mit der sich die Gegenwart kritisch auseinandersetzen muss: Das ist ein westliches Konzept. Historiker wie Herodot oder Thukydides haben gezeigt, dass eine Gesellschaft Geschichtsbewusstsein braucht, wenn sie die Zukunft selbständig gestalten will.
Klingende Namen
Das Rezept, das Giorgia Meloni den italienischen Schulen verschreibt, müsste eigentlich auch die Schweiz interessieren. An Schweizer Schulen wurde der Geschichtsunterricht in den vergangenen Jahrzehnten laufend reduziert. Mit Folgen. Viele Schülerinnen und Schüler wissen nach der Sekundarschule weder, was es mit dem Rütlischwur auf sich hat, noch kennen sie die Errungenschaften des Bundesstaats von 1848. Eine erschreckend grosse Zahl weiss über den Holocaust nur umrisshaft Bescheid. Stalin oder Mao Zedong sind für sie bestenfalls klingende Namen.
Natürlich, um sich in einer Gegenwart zu orientieren, die immer komplexer wird, genügt es nicht, die Geschichte der Schweiz zu kennen. Aber es ist eine wichtige Voraussetzung. Geschichte hat mit Identität zu tun. Andere Kulturen kann nur verstehen, wer mit der eigenen vertraut ist. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte führt nicht nur in die Vergangenheit, sondern macht den Weg frei für den Blick in die Zukunft.
Genau das meint das Papier des italienischen Bildungsministeriums. Dort heisst es, es sei Zweck des Geschichtsunterrichts, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass sich das Hier und Jetzt, dem sie angehörten, nicht in der Gegenwart erschöpfe. Das ist weder eurozentrisch noch kolonialistisch. Sondern das, was Geschichte leisten soll.