Der Gewerbeverband trifft mit seiner neuen Kampagne zwar einen Nerv, löst aber auch massive Gegenreaktionen aus. Was fehlt, ist die richtige Tonlage.
Die Wirtschaftsverbände befinden sich in einer Sinnkrise. Sie zerfleischen sich in Grabenkämpfen, sind sich uneinig, mit welchen Positionen sie wieder mehrheitsfähig werden wollen. Niederlage reiht sich an der Urne an Niederlage. Die Bürger glauben den Stimmen der Wirtschaft nicht mehr. Ein brutaler Machtverlust, eine gnadenlose Entfremdung.
Appelliert wird nun an eine neuerliche Einigkeit: Nur gemeinsam könnten Economiesuisse, Gewerbeverband und Arbeitgeberverband wieder zurück zum Erfolg finden. Aber von Fusionen wollen die Verantwortlichen (bis jetzt) nichts wissen. Also versucht man weiterhin schön separiert, das verlorengegangene Vertrauen wiederzugewinnen.
Einen interessanten Versuch hat kürzlich der Gewerbeverband gestartet. Dessen Präsident, der Mitte-Ständerat Fabio Regazzi, hat immerhin eingesehen, dass die «Gegenseite» viel besser organisiert sei. Das stimmt. Linke Kampagnen fallen auf, die Botschaften sind klar: anklagend, laut und provokativ.
Wer versteht das?
Dieses Rezept wird nun auch auf die eigene Kampagne angewandt: «Bin kein Baby.» Beklagt wird, dass die Schweiz zum «Nanny-Staat» mutiere, in ein Land also, in dem der Bürger nicht mehr mündig ist. Diese Beobachtung ist richtig, doch auch beim Gewerbeverband muss man die Machart hinterfragen. Die Plakate mögen eine fröhliche Knalligkeit ausstrahlen; mit Postergirls und Posterboys, die sich mit hässiger Visage gegen Bevormundung wehren, da sie einen Nuggi in den Mund gedrückt bekommen.
Aber der Slogan wirkt wenig eingängig. Bin kein Baby – was heisst das? Ist das Deutsch? Sei kein Baby? Ich bin kein Baby? Verstehe das, wer will.
Dabei ist die Idee eine gute. Wie der Bürger mittlerweile vom Väterchen Staat fremdbetreut wird, ist tatsächlich fragwürdig und eines liberalen Landes sogar unwürdig. Das soll man pointiert kritisieren. Aber in der Schweiz erreicht man, auch wenn man recht hat, mit übertriebener Zuspitzung keine Mehrheiten. Wenn der Gewerbeverband-Direktor Urs Furrer sich über ein absurdes Werbeverbot enerviert und sagt, dass das bereits in Richtung «Talibanisierung» gehe, dürfte dies auch Menschen abschrecken, die grundsätzlich gegen einen übergriffigen Staat sind.
Angriffig sein ist gut, aber bereits Furrers Vorgänger, Hans-Ulrich Bigler, musste erfahren, dass der rhetorische Grat ein schmaler ist. Die Schweizer mögen Klartext, aber bei zu dick aufgetragener Polemik reagieren sie abwehrend.
Kontraproduktive Anbiederung
Immerhin ist der Versuch da, sich mit selbstbewussten Kampagnen zu wehren. Denn die Wirtschaftsverbände pflegen den drögen Stil. Das beweist Economiesuisse. Dort wurden «Frauen für Europa» als Testimonials gewonnen, die sich für die «Bilateralen» einsetzen. Hat man davon je etwas gehört?
Aber auch bei Themen, bei denen sich Bürgerliche einig wären – liberaler Arbeitsmarkt, tiefe Steuern –, hat Economiesuisse merkwürdige Prioritäten. Man setzt auf eine Influencerin, die den Jungen auf Tiktok die Wichtigkeit der eigenen Anliegen überzeugend darlegen soll. Das mag modern wirken, wirkt jedoch wie eine Verzweiflungstat aus dem bürokratischen Elfenbeinturm. Mit Anbiederung erreicht man die gewünschten Gruppen eher selten. Die Wirksamkeit? Kaum überprüfbar. Die Videos erreichen manchmal mehrere hunderttausend Menschen. Oft aber auch nur ein paar hundert.
Da ist der Schweizer Gewerbeverband mit seinen Partnern – Gastrosuisse, Verband der Detailhandelsunternehmen – derzeit wirkmächtiger unterwegs. Denn die Baby-Kampagne hat nicht nur Zuspruch, sondern auch massive Gegenreaktionen ausgelöst. Plakate wurden niedergerissen. Das Online-Portal, gedacht für Beispiele des Nanny-Staats, wurde mit Obszönitäten geflutet. Das spricht dafür, dass ein Nerv getroffen worden ist. Wenn die Tonlage noch etwas justiert würde, wirkte auch das Anliegen deutlich überzeugender. Und die Wüteriche wären wieder die anderen.