Die EU ist längst kein Einheitsmarkt, wie das deren Vertreter immer wieder behaupten. Vielmehr stossen Unternehmen an viele nationale Grenzen, die sie behindern. Gegen die zehn schlimmsten Hürden will die EU nun vorgehen.
Die EU ist ein Binnenmarkt, einfache Geschäfte können grenzüberschreitend rasch erledigt werden. Das meint man zumindest, und überzeugte Europäer preisen den Binnenmarkt in ihren Festreden gerne als die grosse Errungenschaft der EU. Aber die Realität sieht anders aus. Zwar gibt es den Binnenmarkt schon seit 1993, doch er ist Stückwerk geblieben.
Kleine Firmen beklagen sich etwa darüber, wie aufwendig es sei, die Löhne der Angestellten von einem Land in ein anderes zu überweisen. Auch Handwerker stehen vor hohen Hürden, beispielsweise wenn sie nur schon im Nachbarland einen Auftrag erfüllen wollen.
Es gibt nicht nur viele nationale Vorschriften, sondern auch keine Möglichkeit, sich darüber rasch einen Überblick zu verschaffen. «Die Unternehmen werden immer internationaler, aber nicht europäischer», sagte Stéphane Séjourné, der EU-Kommissar für Industriestrategie, am Mittwoch in Brüssel. Offenbar traut es sich manche Firma gar nicht zu, in einem anderen EU-Land tätig zu werden. Die unterschiedlichen Vorschriften wirken schlicht zu abschreckend.
Wer braucht einen Champignon-Experten?
Nun jedoch unternimmt die EU einen neuerlichen Anlauf, die Mitgliedsländer zusammenzuschweissen. «Wir greifen die Hindernisse an», sagt Séjourné. Dabei hat die Kommission, die unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen gerne griffige Formeln verwendet, zehn besonders abschreckende Barrieren ausgemacht. Sie nennt sie die «Terrible Ten» – ein paar Beispiele dazu.
- Unzählige berufliche Abschlüsse und Berufe existieren nur in einem Land und werden in den übrigen Staaten nicht anerkannt. Zudem gibt es zu viele Qualifikationen, die es nicht braucht, deren Inhaber aber oft den Drang haben, ihr Tätigkeitsfeld gegen Konkurrenten abzuschotten. Wer zum Beispiel benötigt einen reglementierten «Champignon-Experten», den es in einem nicht genannten EU-Land laut Séjourné geben soll?
- Es verstreicht zu viel Zeit, bis die Behörden neue Standards eingeführt haben. Das behindert laut der Kommission die Innovation.
- Uneinheitlich sind auch die Verpackungsvorschriften, und es gibt einen Label-Salat. Das behindert die Zirkulation von Gütern.
- Selbstkritisch meint die EU, dass auch viele ihrer Regeln zu kompliziert seien.
- Zu komplex sind laut der EU auch die Regeln für Arbeitskräfte, die von ihren Firmen für einen begrenzten Zeitraum in ein anderes Land entsandt werden. Was genau sie ändern wird, sagt die Kommission nicht. Doch gerade die Schweiz hat hier von der EU Zugeständnisse erhalten, etwa die viertägige Voranmeldefrist von Arbeitskräften, die vorübergehend in die Schweiz kommen und in Risikobranchen tätig sind, etwa im Bau. Das behindert den Wettbewerb, sichert laut den Schweizer Vorstellungen aber das Lohnniveau.
Die Kommission geht also ein bekanntes Malaise an, die grossen Brocken lässt sie aber aus, wissend, dass sie damit bei den Mitgliedsländern nicht durchdränge. Energie, Telekommunikation und Finanzen: Diese Sektoren bleiben in der EU stark national ausgerichtet, die Kommission rührt sie nicht an.
So wird es wohl weiterhin nur wenige europäische Banken geben, die in mehreren Ländern eine gewichtige Rolle spielen. Das italienische Institut Unicredit beispielsweise hat unter dem ehemaligen UBS-Manager Andrea Orcel zwar das Ziel, ein europäisches Schwergewicht zu werden. Dazu versucht es gerade, die deutsche Commerzbank zu übernehmen.
Doch politisch kann sich Unicredit in Deutschland nicht durchsetzen. Der neue Finanzminister Lars Klingbeil sagte vergangene Woche, Berlin bekenne sich zur Unabhängigkeit der Commerzbank. Das Vorgehen der Unicredit sei inakzeptabel.
Teilweise mag eine solche Abwehrhaltung verständlich sein. Finanzen, aber auch Telekom und Energie sind Sektoren, welche die Länder als sicherheitsrelevant ansehen. Sie sollen daher weitgehend in nationalem Besitz bleiben.
Allerdings verhalten sich die EU-Länder bei dieser Frage auch opportunistisch. Sie sind bereit, den Binnenmarkt in jenen Branchen voranzutreiben, in denen sie stark sind. Sie torpedieren ihn aber dort, wo sie sich schwach glauben – so wie die Deutschen im Finanzbereich.
Solange diese Mentalität in der EU besteht, wird es keinen Binnenmarkt wie im Lehrbuch geben, und die EU wird gegenüber ihren grossen Konkurrenten USA und China einen Nachteil haben.
Die Schweiz hat wenig Grund zur Schadenfreude
Auch die neuen Vorstellungen zum Binnenmarkt wird die Kommission bei den Ländern erst durchsetzen müssen. Und sie weiss offenbar aus den Erfahrungen der vergangenen dreissig Jahre, wie schwierig das ist.
Deshalb schlägt sie vor, dass jedes Land einen «Binnenmarkt-Sherpa» ernennt. Diese Bevollmächtigten werden die Aufgabe bekommen, die Regeln des Binnenmarkts zu propagieren und Barrieren niederzureissen. In Brüssel sollen sich diese «Sherpas» zudem regelmässig treffen, um sich auszutauschen. Es wird in der EU also neue Titulare geben, die Protokolle und «Papers» produzieren, die aus der Sicht der Kommission aber offenbar nötig sind, um die Mitgliedsländer zu disziplinieren.
Schweizer mögen eine solche Aktion belächeln – bis ihnen vielleicht bewusst wird, dass es auch in ihrem 1848 gegründeten Staat keinen Binnenmarkt in Reinkultur gibt. Politiker und Wirtschaftsvertreter haben ihn teilweise ebenfalls hintertrieben, was sich etwa in stark unterschiedlichen Bauvorschriften spiegelt, die wiederum zu hohen Baupreisen führen.