Eine Volksinitiative lanciert die Debatte über die Rolle der Kernenergie neu. Doch die Stromwirtschaft – und selbst AKW-Befürworter – können dem Volksbegehren wenig abgewinnen.
Es ist noch nicht lange her, da schien das Schicksal der Kernkraft in diesem Land besiegelt. Am 21. Mai 2017 sprach sich das Stimmvolk für den Ausstieg aus. Die bestehenden Kernkraftwerke sollten zwar weiterlaufen dürfen, solange sie sicher sind. Der Ausbau der Stromproduktion sollte fortan aber mit den erneuerbaren Energien geschehen.
Seither jedoch ist die Schweiz nur knapp an einer Strommangellage vorbeigeschrammt; der Bundesrat musste die Bevölkerung vor drohenden Worst-Case-Szenarios warnen, Stromabschaltungen planen und auf die Schnelle mit Öl oder Gas betriebene Notkraftwerke errichten. Zurück blieb der Eindruck, dass die Schweiz nicht mehr in der Lage ist, jederzeit eine sichere Stromversorgung zu garantieren.
Nun soll der Volksentscheid von 2017 korrigiert werden – und der Bau neuer Kernkraftwerke wieder möglich werden. Am Freitag reichte ein bürgerliches Komitee die «Stopp Blackout»-Initiative ein, die der wenig bekannte Energie Club Schweiz (ECS) lanciert hat. Im Komitee sitzen prominente Politiker wie die Nationalräte Marcel Dobler (FDP) und Christian Imark (SVP), der Ständerat Peter Hegglin (Mitte) sowie Eduard Kiener, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Energie.
Die Initiative verlangt, dass die Stromversorgung in der Schweiz jederzeit sichergestellt sein muss und sämtliche umwelt- und klimaschonenden Arten der Stromerzeugung zulässig sind, also auch die Kernenergie. Gleichzeitig fordert sie, dass der Bund die Verantwortlichkeiten für eine sichere Stromversorgung festlegt. Damit soll die Schweiz auch in Zukunft – vor allem im Winter – über genügend Strom verfügen.
In der Stromwirtschaft kommt die Initiative allerdings nicht gut an. «Die Diskussion um die Kernkraft kommt zum falschen Zeitpunkt. Sie schafft Verunsicherung und Verzögerung», heisst es beim Verband der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen (VSE). In den nächsten 15 Jahren gebe es nur einen Weg, um die Versorgungssicherheit zu stärken: der massive Ausbau der erneuerbaren Energien. Die Initiative brauche man dazu nicht. Laut dem Verband weist die Initiative auch inhaltliche Schwächen auf. Sie sei unklar formuliert – so werde die Kernenergie nicht einmal explizit erwähnt, obschon dies ihr Hauptanliegen sei.
Es ist dies eine Kritik, die selbst eifrige Befürworter der Kernkraft teilen. Aufgrund von Konstruktionsfehlern könne man die Initiative nicht unterstützen, heisst es beim Nuklearforum, das sich für eine friedliche Nutzung der Kernenergie einsetzt. Auch ihm missfällt die offene Formulierung des Initiativtextes. Diese könnte, so die Furcht seines Präsidenten Hans-Ulrich Bigler, dazu führen, dass das Neubauverbot für Kernkraftwerke auch bei einer Annahme der Initiative nicht aufgehoben wird. Das Nuklearforum hält es deshalb für zielführender, konkrete Änderungen direkt im Kernenergiegesetz anzustreben.
Die Präsidentin des ECS, Vanessa Meury, wehrt sich gegen diese Kritik: «Wir haben bewusst darauf verzichtet, spezifische Begriffe wie ‹AKW› oder ‹Kernenergie› in die Verfassung zu schreiben. Einzelne Technologien gehören schlicht nicht in die Verfassung.»
Es sind nicht zuletzt diese angeblichen Defizite der Initiative, welche bereits jetzt die Diskussion befeuern, wie ein Gegenvorschlag zur Initiative aussehen könnte. Sollte sich dieser auf eine Aufhebung des Neubauverbots beschränken – oder auch den Abbau von gesetzlichen Hürden vorsehen, um solche Grossanlagen verlässlich realisieren zu können?
In welche Richtung ein Gegenvorschlag gehen könnte, darüber machen sich etwa die Wirtschaftsverbände Economiesuisse und Swissmem Gedanken. Swissmem-Vizedirektor Jean-Philippe Kohl begrüsst es, dass mit der Initiative die Debatte über die Rolle der Kernkraft angestossen wird. Laut ihm könnte die Stromlücke im Winter mit dem Bau von einem oder mehreren Kernkraftwerken geschlossen werden, sofern sich zeigt, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht in der geforderten Geschwindigkeit erfolgt.
Kernenergie und Landschaftsschutz verbinden
Der Ausbau der Photovoltaik auf Dächern und Infrastrukturen sei zwar weitgehend unbestritten, betont Kohl. Das Referendum gegen das neue Stromgesetz zeige jedoch, dass ein Zielkonflikt zwischen dem Natur- und Landschaftsschutz und dem Bau von grossen Solar-, Wind- und Wasserkraftwerken bestehe. «Die Kernenergie bietet die Chance, einen Teil dieses Zielkonflikts wenigstens in der längeren Frist zu entschärfen.» Dazu brauche es aber einen Gegenvorschlag, bei dem es nicht nur um die Kernenergie gehe, sondern auch um den Landschaftsschutz.
In Widerspruch zum neuen Stromgesetz, das die Wirtschaftsverbände klar unterstützen, stünde ein solcher Gegenvorschlag laut Kohl nicht. Im Gegenteil: «Stromgesetz und Blackout-Initiative ergänzen sich.» Während Ersteres es erlaube, die Stromproduktion kurz- und mittelfristig auszubauen, könne mit der Blackout-Initiative, beziehungsweise einem Gegenvorschlag, die längerfristige Stromversorgung gesichert werden.
Eine weitere Idee für einen Gegenvorschlag stammt vom FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. Er will zum einen das bestehende Neubauverbot für Kernkraftwerke aufheben. Zum anderen regt Wasserfallen Auktionen für neue Kraftwerke an, mit dem Ziel, insbesondere mehr Strom im Winter zu produzieren. Die Auktionen sollen dabei technologieneutral ausgestaltet sein, wobei nur klimafreundliche Technologien zugelassen werden sollen. Ob am Ende ein Kernkraftwerk oder neue Wasser- oder Solarkraftwerke gebaut werden, hängt davon ab, welches Angebot am günstigsten ist, um die ausgeschriebene Strommenge bereitzustellen.
Die grosse Frage lautet derweil, wie sich der Bundesrat zur Initiative stellt. Dass Energieminister Albert Rösti ins Lager der Kernkraftbefürworter gehört, ist kein Geheimnis. Doch äusserte sich der SVP-Magistrat jüngst zurückhaltend zur Initiative. Er will vor allem nicht den Eindruck aufkommen lassen, dass aufgrund der Kernkraft-Diskussion plötzlich der Ausbau der Erneuerbaren obsolet erscheint – und damit auch das neue Stromgesetz, das am 9. Juni an die Urne kommt. Was danach kommt, ist allerdings eine ganz andere Frage.