Der frühere Nationalspieler hat nach seinem Rücktritt eine neue Lebensqualität entdeckt. Noch ist offen, womit sich Dzemaili künftig im Fussball beschäftigen wird. Er denkt, dass sich sein früherer Verein, der FC Zürich, von YB wichtige Dinge abschauen könnte.
Blerim Dzemaili, was macht ein zurückgetretener Fussballprofi den ganzen Tag?
Ich geniesse das Leben und bin viel bei meinem Sohn, der mit seiner Mutter auf Fuerteventura lebt. Und ich treffe Freunde, baue ein Haus in Zürich, nehme es gemütlich. Nach zwanzig Jahren als Profi habe ich eine neue Form der Lebensqualität entdeckt. Am Morgen in Ruhe einen Kaffee trinken und dazu die NZZ auf dem Tablet lesen, dann ein wenig Sport treiben, Golf spielen, Kontakte pflegen.
Welchen Stellenwert hat der Fussball ein halbes Jahr nach Ihrem Rücktritt?
Ich schaue viele Spiele am TV, führe Gespräche und bin unterwegs, ich war etwa bei meinen früheren Vereinen zu Besuch. Ich will gut vorbereitet sein, wenn ich einen Job im Fussball annehme. Und ich bin Experte für das Tessiner Fernsehen an den Schweizer Länderspielen.
Hat es Sie an einem Spieltag nie mehr gejuckt?
Nein, nie, wirklich nicht. Ich hatte ein perfektes Karriereende mit dem wunderschönen Abschied von der Südkurve, die einzigartig ist. Ich hätte vom Physischen her noch ein, zwei Saisons spielen können, doch ich war mental ausgelaugt. Es ist nicht entscheidend, ob du 20, 21 oder 22 Jahre Profi warst. Viel wichtiger ist, dass du aufhörst, wenn du noch gut und gesund bist. Mit dem Meistertitel 2022 habe ich mit dem FCZ sogar noch ein Märchen erlebt.
Bleeeerim Dzemaaaili 💙🤍#fcz #stadtclub pic.twitter.com/BvaQ6Sb7eW
— FC Zürich (@fc_zuerich) May 29, 2023
Man hört von Fussballprofis oft, dass sie nach der Karriere in ein Loch fallen, weil der Lebensrhythmus vom einen auf den anderen Tag ganz anders ist.
Klar, es verändert sich vieles, eigentlich alles. Aber ich habe ein gutes Umfeld, meine besten Freunde waren nie Fussballer. Was ich total unterschätzt hatte: wie sehr ich als Fussballprofi, gerade am Schluss im FCZ, unter Druck stand. Man funktioniert als Spieler einfach, es geht immer weiter. Es gab eine Situation wenige Wochen nach dem Karriereende, als ich in Japan in den Ferien war. Ich stand im Hotelzimmer drei Stunden wie angewurzelt da und schaute einfach zum Fenster raus. Das war wohl der Moment, als der ganze Stress von mir abfiel. Da war danach ein Gefühl der Erleichterung.
Gibt es nichts, was Sie vermissen?
Den Fussball an sich nicht. Aber die Teamkollegen, die Garderobe, das Publikum, die Südkurve, das wird immer irgendwie da sein. Die Emotionen und das Spiel habe ich zwanzig Jahre gelebt. Und wenn man ständig in der Öffentlichkeit steht und die eigenen Leistungen von allen analysiert werden, ist es auch schön, wenn man nicht mehr im Fokus steht. Ich geniesse es, spontan mit Kollegen abzumachen. Und ich habe endlich mit Skifahren angefangen. Es ist herrlich, am Samstagmorgen in die Berge zu gehen.
Es gibt Fussballer, die nicht aufhören wollen oder können, wie der frühere Nationalteam-Captain Gökhan Inler, der bald 40 ist.
Das ist okay, das muss jeder für sich entscheiden. Fussballer zu sein, ist auch ein Lebensgefühl, das süchtig machen kann. Ich spiele zurzeit nur ab und zu mit Kollegen. Und letztes Wochenende war ich mit einer Schweizer Auswahl am Schneefussball-Turnier in Arosa, das war ein grosser Spass. Ich habe es nicht verlernt, Tore zu schiessen.
Gibt es etwas, das Sie bereuen?
Ich erlebte viele Höhepunkte, war in einigen Ländern, es gab zahlreiche schöne Momente. Aber klar, ich habe einiges nicht richtig gemacht. Mit 21 hätte ich zu Juventus oder zu meinem Lieblingsklub Milan wechseln können, ich ging aber zu Bolton in die Premier League. Das war ein Fehler. Leider erhält die Serie A in der Deutschschweiz nicht die Wertschätzung, die sie verdient hätte. Später wurde ich in Italien sportlich und privat glücklich.
Und trauern Sie Situationen nach, wie etwa der berühmten Torchance an der WM 2014 gegen Argentinien oder der Möglichkeit im nächsten verlorenen WM-Achtelfinal 2018 gegen Schweden?
Ehrlich gesagt, denke ich oft an eine andere Gelegenheit. Es war mit Napoli kurz vor Saisonende im Spitzenspiel gegen Juventus, 1:1, 87. Minute. Der Ball fällt mir vor die Füsse, der Goalie Gianluigi Buffon ist bereits auf dem Weg in die rechte Ecke, mein Schuss aus zehn Metern geht etwa zwei Zentimeter links vorbei. Hätte ich da ein Tor geschossen, wären wir Meister geworden, davon bin ich überzeugt. Vieles realisiert man erst nach der Karriere. Ich war dabei, als Napoli erstmals nach 25 Jahren und nach den Zeiten mit Diego Maradona als Cup-Sieger wieder einen Titel gewann. Damals blieb gar keine Zeit, das einzuordnen.
Wie blicken Sie auf Ihre Laufbahn im Nationalteam zurück?
Ich bin nicht zufrieden. Bereits mit 20 setzte Köbi Kuhn auf mich, aber da fiel ich leider mehrmals verletzt aus. Später erhielt ich von Ottmar Hitzfeld selten das Vertrauen, erst mit Vladimir Petkovic als Trainer wurde ich ein wichtiger Spieler.
Wenn wir Sie früher richtig verstanden haben, war für Sie schon als Fussballer klar, dass Sie später einmal im Management eines Klubs arbeiten möchten. Wann sehen wir Sie als Sportchef?
Das ist der Plan, genau. Gegenwärtig hat für mich jedoch Priorität, möglichst viel Zeit mit meinem Sohn zu verbringen. Ich habe Ausbildungen in Sportmanagement gemacht, habe ein breites Netzwerk und viel Erfahrung, deshalb traue ich mir zu, als Sportchef zu arbeiten. Es kann auch sein, dass ich eine Firma gründe und als Spielerberater tätig bin. Ich lasse mir viele Türen offen und möchte zuerst Erfahrungen sammeln in einem Verein und nicht gleich die Nummer eins sein. Denn es wird ein ganz anderer Job sein.
Admir Mehmedi ist nach seinem Karriereende mit 32 Jahren gleich Sportchef im FC Schaffhausen geworden.
Das finde ich cool. Ich habe viel Kontakt mit ihm. Auch das ist eine individuelle Sache. Bei YB machen sie es überragend, mit ehemaligen Top-Fussballern, die in unterschiedlichen Funktionen reifen und immer mehr Verantwortung übernehmen. Oft ist es halt leider so, dass wichtige Personen in Fussballklubs Angst vor uns ehemaligen Spitzenspielern haben. Dabei kennen wir das Spiel sehr gut und wissen, wie das Geschäft läuft.
Man hört, dass die Fussballexperten des Tessiner Fernsehens mit Abstand die besten der Schweiz seien.
Im Tessin orientiert man sich stark an Italien. Dort wird stundenlang über Fussball diskutiert, in einer lockeren Ambiance, dennoch kritisch. Valon Behrami, Alberto Regazzoni und ich versuchen das auch bei den Länderspielen. Ich bin zudem im Stadion als Co-Kommentator tätig, das ist eine tolle Sache.
Sie stehen vielen Nationalspielern immer noch nahe. Wie sehr belastet das Verhältnis zwischen dem Trainer Murat Yakin und dem Captain Granit Xhaka das Team?
Die beiden müssen sich aussprechen. Ich kenne Granit sehr gut, er will immer gewinnen und ist dominant. Darum reagiert er manchmal impulsiv. Das muss ein Trainer antizipieren. Granit ist dann der beste Granit, wenn er das totale Vertrauen spürt, wenn er Chef sein darf. Also muss ihn der Trainer immer stärken. Es ist aber zu einfach, wenn man nur den Trainer angreift. Die Spieler müssen nach schwächeren Leistungen mit Kritik leben können.
Verstehen Sie, dass Xhakas Auftreten ab und zu für Wirbel sorgt?
Er polarisiert. Aber er ist einer der grössten Schweizer Fussballer der Geschichte. Ich mag Spieler mit Charakter, weil sie vorangehen und unter Druck nicht zusammenbrechen. Ich finde, in der Schweiz wird Granit oft zu wenig Respekt entgegengebracht, die Medien kritisieren ihn zu schnell.
Waren Sie auch überrascht, dass Yakin als Nationaltrainer bleiben durfte, zumal sein Vorgesetzter Pierluigi Tami ihn eigentlich hatte absetzen wollen?
Es war sicher eine enge Entscheidung. Aber Murat hat die Ziele erreicht. Und er wird einen neuen Assistenten erhalten, im Idealfall einen früheren Nationalspieler. Falls es einen Trainerwechsel gegeben hätte, wäre für mich klar gewesen, dass ein früherer Trainer von mir hätte Nachfolger werden sollen.
Lucien Favre?
Er wäre auch eine gute Option gewesen. Aber André Breitenreiter, der uns beim FCZ 2022 zum Titel führte, wäre für mich die Toplösung gewesen. Er ist fachlich und menschlich sensationell und weiss, wie er Spieler und Mannschaft führen muss.
Und woran denken Sie, wenn Sie die vielen personellen Veränderungen im FC Zürich sehen?
Das war doch zu erwarten. Wenn Milos Malenovic als Sportchef neue Strukturen und eine andere Philosophie verankern will, muss er Dinge korrigieren. Es gab allerdings in den letzten zwölf Monaten im FCZ schon sehr viele Wechsel, auch auf der Geschäftsstelle.
Nicht allen gefallen Auftreten und Einfluss von Malenovic. Wie man beispielsweise im letzten Sommer dem Stürmer Admir Mehmedi abgesagt hatte, war eher stillos.
Ja, das lief unglücklich. Am Ende müssen die Verantwortlichen von ihrem Weg überzeugt sein. Und von Admir waren sie wohl nicht mehr restlos überzeugt, was ich nicht ganz nachvollziehen kann. Er wäre eine Identifikationsfigur gewesen und hätte dem FCZ gutgetan. Malenovic hat mit seiner Beratungsfirma viele Kontakte, doch auch er wird an den Ergebnissen gemessen werden.
Eigentlich hatte es doch geheissen, dass Sie nach Ihrer Karriere ins Management des FCZ einsteigen würden. Warum hat das nicht geklappt?
Gute Frage, schwierige Frage. Die Antwort ist einfach: weil wir nie mehr darüber gesprochen haben. Dabei war das so vorbesprochen gewesen und hätte mich gereizt.
Kann es sein, dass im FCZ der familiäre Groove, der mit dem Besitzer-Ehepaar Canepa immer herrschte, ein wenig verlorengeht?
Es wäre wichtig, dass es nicht so ist. Ich finde es zudem schade, dass der FCZ nicht mehr in neue Spieler investiert, so wie es YB tut. Der FCZ müsste auch einmal 5 oder 10 Millionen Franken in die Hand nehmen für entwicklungsfähige Fussballer. Er hat ein eher schmales Kader, es fehlt an einem Torjäger. Als wir in der vorletzten Saison Meister wurden, hatten wir hinter Assan Ceesay und Antonio Marchesano mit Blaz Kramer, Aiyegun Tosin und Wilfried Gnonto starke Offensivspieler auf der Bank.
Verstehen Sie, warum die Trennung von Trainer Bo Henriksen auf das Ende der Saison hin nicht längst kommuniziert wurde?
Ich denke, Klub und Trainer wollen nicht mehr gemeinsam weitermachen, sonst wäre der Vertrag schon lange verlängert worden. Das ist kein Geheimnis und auch nachvollziehbar, weil der Trainer ja zur neuen FCZ-Philosophie passen muss. Bo hat einen sensationellen Job gemacht. Als er im Herbst 2022 kam, lagen wir am Boden.
Könnten Sie sich vorstellen, in der Super League für einen anderen Klub als den FCZ zu arbeiten?
Ich bin offen für alles, auch im Ausland. Das Projekt muss interessant sein. Unerklärlich ist für mich, dass so viele Super-League-Klubs ausländische Besitzer haben, zumal die Schweiz eines der reichsten Länder der Welt ist. Da fehlt es doch an der notwendigen Identifikation.
Blerim Dzemaili: viele Vereine, viele Titel, viele Länderspiele
fcr. · Blerim Dzemaili ist einer der erfolgreichsten Schweizer Fussballer der letzten zwanzig Jahre und hat 69 Länderspiele bestritten. Der 37-Jährige wurde mit seinem Stammklub FC Zürich dreimal Meister (2006, 2007, 2022) und gewann auch mit Napoli und Galatasaray Istanbul Titel. Er verbrachte viele Saisons in Italien, stand aber auch in Kanada bei Montreal und in China bei Shenzhen unter Vertrag. Im letzten Sommer beendete Dzemaili seine Spielerkarriere. Nun arbeitet er als TV-Experte und Co-Kommentator für das Tessiner Fernsehen an den Schweizer Länderspielen.