Die Pop-Ikone Taylor Swift ist insgeheim queer – dessen ist sich eine amerikanische Journalistin sicher. Dass ihr Essay nicht nur übergriffig, sondern auch höchst reaktionär ist, ist ihr nicht bewusst. Es ist nicht das erste Mal.
Kann es sein, dass die erfolgreichste Künstlerin unserer Zeit in ihrem Innern gefangen ist? Dass sie uns ständig Signale sendet, die verraten, wer sie in Wahrheit ist – wir diese aber partout nicht sehen wollen? Mehr noch: dass nur ein Kreis von Gleichgesinnten die subtilen Zeichen deuten kann?
Die «New York Times»-Autorin Anna Marks ist überzeugt: Taylor Swift ist insgeheim queer. In einem 30 000 Zeichen langen Meinungsartikel erörtert Marks, weshalb wir davon ausgehen können – nein: müssen, dass die Sängerin mindestens bisexuell ist. Das Korsett der Musikindustrie verunmögliche ihr aber, sich tatsächlich zu outen. Der Artikel kommt einem hochspekulativen Zwangs-Outing gleich.
Es mag verwundern, dass eines der renommiertesten Medienhäuser der Mutmassung über eine Künstlerin und ihre sexuelle Orientierung so viel Raum gibt. Es überrascht hingegen kaum, dass die Spekulationen Taylor Swift treffen. Denn das Privatleben des Superstars war immer schon öffentliches Schauspiel und Projektionsfläche gleichermassen.
Swifts Stärke ist auch ihre Achillesferse
Das «Time»-Magazin erkor Swift zur Person des Jahres 2023, ihre aktuelle Eras-Welttournee dürfte allein in den USA 4,6 Milliarden Dollar einspielen. Taylor Swift ist die Frau der Stunde.
Dabei ist Swift keine Vokalistin wie Beyoncé, und sie ist keine Tänzerin wie Jennifer Lopez. Das Handwerk hinter Swifts Erfolg ist ein anderes: Sie ist das All-American-Girl, das über sein Leben schreibt. Sie schafft es wie kaum eine andere Künstlerin, Song-Zeilen zu schreiben, mit denen sich ihre Fans identifizieren und die selbst Kritikern im Gedächtnis bleiben.
Taylor Swifts Stärke aber ist gleichzeitig ihre Achillesferse: Sie verarbeitet in ihren Texten Persönliches. Sie teilt darin Freude und Enttäuschung ebenso, wie sie Einblick in gescheiterte Beziehungen gibt. Das schafft Identifikation, aber auch Raum für Spekulationen. Jedes Mal, wenn Taylor Swift Musik veröffentlicht, mutmassen Tausende von Social-Media-Usern, welcher prominente Ex-Freund mit welcher Zeile gemeint sein könnte.
Zu Swifts verflossenen Lieben zählen der Schauspieler Jake Gyllenhaal, der Musiker John Mayer oder der DJ Calvin Harris. Sie gilt als «serial dater». Dieses Image besingt Swift in ihrem Hit «Blank Space»: «Got a long list of ex lovers, they tell you I’m insane» (Ich habe eine lange Liste von Ex-Freunden, sie werden dir sagen, ich sei verrückt).
Als ob sie ihrem Ruf entgegenwirken wollte, hielt Taylor ihre letzte Beziehung zum britischen Schauspieler Joe Alwyn über sechs Jahre weitgehend aus der Öffentlichkeit heraus. Medien und Social-Media-Accounts spekulierten schon darüber, ob Swift wirklich glücklich sei – denn es existierten angeblich nur wenige gemeinsame Fotos, auf denen sie lächelt.
Die Medien sollten sich bestätigt fühlen, als Taylor Swift im letzten September eine öffentlichkeitswirksame Beziehung mit dem NFL-Star Travis Kelce begann. Seither kursieren zahlreiche Fotos und Videos, die das Glück und die Verliebtheit der Sängerin bezeugen sollen.
Taylor Swifts Ruhm scheint medial untrennbar mit ihrem Liebesleben verbunden. Das Recht, über Swifts Privatleben zu spekulieren, nimmt sich die Öffentlichkeit mit Verweis auf die persönlichen Songtexte. Eine Person aus Swifts Umfeld formulierte es gegenüber CNN folgendermassen: «Aufgrund ihres enormen Erfolgs haben die Leute ein Loch in ihrer Moral – und es ist Taylor-förmig.»
Taylor Swift wird zum Opfer gemacht
Die «New York Times» geht mit ihrem publizierten Meinungsstück aber noch einen Schritt weiter. Die Autorin deutet Taylor Swifts Aktivismus für die LGBTQ-Szene als klares Indiz, dass sie selbst queer ist.
Anna Marks’ Artikel liest sich zeitweise wie eine Verschwörungserzählung: Seit Jahren gebe Swift immer wieder Hinweise, welche für die Community eindeutig seien. Seien das Song-Zeilen, in denen sich «her» anstelle von «you» besser reimen würde, oder die Beschreibung ihrer Muse, die besser auf eine Frau zuträfe. «Manchmal kommuniziert Swift auch durch ihre explizite Kostümwahl», sagt Marks. So habe sie ihre Haare schon in den Farben der Pride-Flagge von Bisexuellen gefärbt (pink, violett und blau). Oder sie trage immer wieder Kleider in Regenbogenfarben.
Mehr noch: Im August 2019 postete Swift auf Instagram ein Foto mit einem Regenbogenfilter. Sie trägt darauf unter anderem ein Armband mit der Aufschrift «proud» und den Farben der «Bisexual Pride»-Flagge. Für Marks kommt das nahezu einem Outing gleich – zumindest gegenüber jenen Menschen, die in der Lage seien, die Zeichen zu deuten.
Dabei wurde der einstigen Country-Sängerin Swift lange Zeit vorgeworfen, sich den amerikanischen Konservativen anzubiedern. In den vergangenen Jahren aber wurde Swift durchaus politisch. Mit dem Song «You Need to Calm Down» etwa hat sie sich 2019 unmissverständlich hinter die LGBTQ-Szene gestellt.
Im Zuge der Veröffentlichung sagte sie in einem Interview: «Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass ich mich für eine Community einsetzen kann, zu der ich selbst nicht gehöre.» Marks sieht auch hier die Möglichkeit, dass Swift womöglich zu jenem Zeitpunkt noch in der «dunklen, einsamen Nische einer Kammer» feststeckte.
Taylor Swift, so lassen sich Marks’ Aussagen deuten, ist gefangen in den heteronormativen Vorstellungen der Gesellschaft. Sie soll also nicht nur unfreiwillig geoutet werden, sie wird auch ungefragt zum Opfer gemacht.
Auch Harry Styles bedient sich queerer Ästhetik
Der Essay von Marks hat hohe Wellen geschlagen und wurde auf X von zahlreichen Usern als sexistisch quittiert. Der Artikel würde so niemals über einen Mann geschrieben werden, heisst es beispielsweise. Das stimmt jedoch nur teilweise.
Im August 2019 hat sich dieselbe Autorin den Sänger Harry Styles vorgeknöpft. Styles betreibe nämlich sogenanntes Gaybaiting: Er suggeriere durch seine Kleidung, sein Verhalten oder beiläufige Bemerkungen, Teil der LGBTQ-Szene zu sein, wobei er in Tat und Wahrheit heterosexuell sei. Er umwerbe damit ein queeres Publikum und profitiere ökonomisch davon, eine vermeintliche sexuelle Fluidität darzustellen.
Die Ausgangslage ist im Prinzip dieselbe: Harry Styles und Taylor Swift spielen beide mit der queeren Ästhetik und geben sich unmissverständlich als Unterstützer der Community zu erkennen. Harry Styles wird selbiges aber als kommerzielles Kalkül ausgelegt, während Taylor Swift zur Gefangenen des Systems erklärt wird, die sich nicht outen kann. Styles ist ein Täter, Swift ein Opfer.
Anna Marks sieht die reaktionären Schlüsse jedoch ausschliesslich in der Gesellschaft. Die Welt warte darauf, dass Swift endlich den Mann finde, der ihrer Ehe- und Kinderlosigkeit ein Ende bereiten würde. Den Beweis sieht sie in der unermüdlichen Berichterstattung über Swifts Beziehungen. Dass Marks mit ihrer Kritik ihre eigenen Ideale auf Swifts Leben projiziert, scheint sie nicht zu merken.